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Erinnerungen an das Drewag-Areal

Die Fläche an der Lößnitzstraße wird zum Wohn- und Schulstandort. Ein Dresdner verbindet mit ihr eine besondere Zeit.

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© Christian Juppe

Von Sophie Arlet

Einmal zurück in die Vergangenheit reisen, einmal zurück in die Werkstatt, in der das Berufsleben begann, einmal zurück in eine Zeit, in der ein Ei in der Suppe Luxus nach einer langen Nachtschicht war. Für den Dresdner Egon Grafe und seine Kollegen wurde dieser ungewöhnliche Wunsch Wirklichkeit. Zusammen haben sie im alten Drewag-Areal an der Lößnitzstraße gelernt. Dort bildete das Energieunternehmen seine Elektromonteure aus. Noch heute treffen sich die Ehemaligen und tauschen Erinnerungen aus. Seit über 40 Jahren reisen sie dafür aus ganz Deutschland an. Vor Kurzem war es wieder so weit. Die Werbefirma, die jetzt in dem Gebäude sitzt, hatte den Männern ihre ehemalige Lehrwerkstatt zur Verfügung gestellt. Sie waren zurück in der Werkstatt, in der das Berufsleben begann.

Der heute 80-jährige Egon Grafe erinnert sich noch gut an seine Ausbildung zum Elektroinstallateur. Er trifft sich regelmäßig mit Mitstreitern von damals.
Der heute 80-jährige Egon Grafe erinnert sich noch gut an seine Ausbildung zum Elektroinstallateur. Er trifft sich regelmäßig mit Mitstreitern von damals. © Christian Juppe

Egon Grafe besitzt noch immer viele Dokumente aus dieser Zeit. Die Umstände so kurz nach dem Krieg haben ihn zur Ausbildung bei der Drewag gebracht. Eigentlich wollte der junge Mann damals Uhrmacher werden. Doch Uhren wurden kurz nach dem Krieg nicht gebraucht, Azubis fehlten vor allem in Versorgungsberufen. „Vier Tage vor Ausbildungsbeginn hat mir ein Freund meines Vaters den letzten Ausbildungsplatz zum Elektromonteur beschafft“, erinnert sich Grafe. Das war 1952. Fortan fuhr der damals 14-Jährige täglich mit dem Zug von Sörnewitz nach Dresden in die Lößnitzstraße 14. Ein beschwerlicher Weg zur Arbeit für einen Jugendlichen. Leicht war es auch manchmal in der Lehre nicht.

So gab es nicht genug Berufsschulen. Deshalb wurde jeder Betrieb verpflichtet, auch für die theoretische Ausbildung zu sorgen. Auf dem Lehrplan standen nicht nur technische Zeichnungen, auch Goethes Faust haben die jungen Azubis gelesen. Vor allem aber lernten sie die praktischen Seiten des Berufs kennen. „Erst mussten wir über Monate feilen üben, dann bohren, schneiden, fräsen“, erinnert sich der heute 80-Jährige.

Und auch die Zeit nach dem Feierabend haben die jungen Männer nicht zum Ausruhen genutzt. Zwar hatten sie gegen 16 Uhr frei. An manchen Tagen ging es dann aber zur Markthalle an der Schweriner Straße. Dort erkundigten sie sich, ob mal wieder ein Güterzug aus Cottbus im Anmarsch sei. Der brachte 30 Tonnen Spreewälder Gurken – die mussten abgeladen und in einzelne Kisten verpackt werden. Erst 22 Uhr kam der Zug, bis früh um halb sechs haben Egon Grafe und seine Freunde geschuftet. Nach getaner Arbeit zog die Truppe zum Neustädter Bahnhof. Dort gab es Brühwürfelsuppe – wer es sich leisten konnte, ließ sich ein Ei reinschlagen. „Das war unser Frühstück“, sagt Grafe.

Ein schnelles Frühstück. Denn schon wartete der nächste Tag in der Ausbildungswerkstatt auf der Lößnitzstraße. Dort kamen die Lehrlinge zwar erschöpft, aber mit 22 Mark extra in der Tasche an. Sehr viel Geld für die Jugendlichen, sehr viel Geld für die damaligen Zeiten. Denn Egon Grafe und seine Kollegen bekamen nur 60 Mark brutto, davon gingen Beträge an die Versicherung, die FDJ und die Gewerkschaft. Am Ende blieben ungefähr 52 Mark übrig, die Monatskarte für den Zug kostete fast zehn Mark. Für Westjeans und Schallplatten von Elvis Presley wäre ohne den Zuverdienst nicht mehr viel übrig geblieben.

Auch nach der Facharbeiterprüfung 1956 hatte es Egon Grafe nicht einfach. Nach Feierabend leistete er an drei Abenden pro Woche Arbeitsstunden bei der Wohnungsgenossenschaft Aufbau und koordinierte die Arbeiten an den Freiflächen. Das zusätzliche Geld war der vierköpfigen Familie willkommen. Grafe musste als Ingenieur deutlich mehr Steuern zahlen als ein Arbeiter – unterm Strich hatte er weniger Lohn als mancher Facharbeiter. „Ohne meine Frau hätte ich das nicht geschafft“, sagt er. Sie kümmerte sich neben ihrer Arbeit noch um den Haushalt und zog die zwei Kinder groß.

Auch von dieser Zeit erzählen sich die ehemaligen Drewag-Lehrlinge bei ihren Treffen. Mit Interesse verfolgen sie aber auch die Zukunft des Drewag-Geländes, ihrer alten Ausbildungsstätte. In den kommenden Jahren wird sich das Areal an der Lößnitzstraße verändern. Wohnungen, eine Schule und eine Kletterhalle sollen entstehen. Bis 2007 hatte die Drewag das Gelände genutzt. Danach siedelten sich Künstler an. Einige von ihnen haben der Drewag einzelne Gebäude abgekauft. Und auch die Stadtverwaltung hat sich einige Grundstück gesichert. Ab 2019 wird hier die 148. Grundschule gebaut. Vorher müssen Altlasten beseitigt werden, die Arbeiten beginnen im April. Egon Grafe wird wohl dennoch immer an seine Ausbildung denken, wenn er das Areal sieht.