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Endstation Ruhestand

Über vier Jahrzehnte war Gabriele Schellenberg auf Görlitzer Schienen unterwegs. Jetzt nutzt sie die Rente mit 63.

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© nikolaischmidt.de

Von Ralph Schermann

Ein bisschen Bedauern ist dabei. Aber nur ein ganz kleines bisschen. „Ich habe die Arbeit gern gemacht – aber ich bin auch froh, dass nun Schluss ist“, sagt Gabriele Schellenberg. Am Donnerstag klingelt die Straßenbahnerin um 10.43 Uhr ein letztes Mal in Biesnitz ab.

Es ist ihre letzte Tour. Die 63-Jährige blickt zurück auf ein Leben mit der Görlitzer Straßenbahn. Von klein auf ist sie mit der „Elektrischen“ gewachsen, Mutter und Vater waren Straßenbahner. Sie lernte als Kind noch Strecken kennen, die es in ihrem eigenen Berufsleben dann nicht mehr gab, etwa den Pendelverkehr zur Stadthalle. 1973 hatte sie das erste Mal laut Fahrplan eine Kurbel in der Hand, steuerte einen jener Wumag-Triebwagen nach Weinhübel, von denen einer noch heute als Traditionsfahrzeug erhalten blieb. „Es gibt auf Görlitzer Gleisen kein Fahrzeug, das ich nicht bewegt hätte“, sagt Gabriele Schellenberg. Auch das uralte 1897er Museumsstück fuhr sie, wechselte von Kurbel über Schaltrad bis hin zum Joystick. Sie passte bei den Mannheimer Düwag-Wagen höllisch auf, nichts zu verwechseln, denn dort ist Fahren und Bremsen genau andersherum als in allen anderen Wagen angeordnet. Heute fährt so ein Stück nur noch als Hopfenexpress-Partybahn.

„Eigentlich war über Jahrzehnte alles normal“, blickt sie zurück. Sie verursachte nie einen Unfall, bog nie aus Versehen in die falsche Richtung, erlebte keine Havarie. Täglich gleiche Touren durch die Stadt, da sieht man Neues wachsen oder schaut manchmal auch gar nicht mehr hin. Krach von Fahrgästen gab es kaum, „höchstens im Lumpensammler aus Rauschwalde“, wie die letzte Bahn hieß, die nicht mehr nüchterne Zwei-Linden-Besucher und sonstige Nachtschwärmer aufnahm. Sie erinnert sich an Nachtdienste ebenso wie an das ständige Umkuppeln der Beiwagen, als es noch keine Wendeschleifen gab. Sie erzählt, dass in Vorkriegsmodellen die Fahrer stehen mussten und dass das in den kalten Wintern oft nur in dicken Filzstiefeln ging.

Manches geht Gabriele Schellenberg auf ihrer letzten Tour durch den Kopf. Mit dem Fahrerwechsel endet um 11 Uhr an der Haltestelle Demianiplatz endgültig ihr Arbeitsleben. Die Einfahrt ist diesmal aber anders: Mitarbeiter der Verkehrsgesellschaft Görlitz (VGG) haben „für unser Urgestein“, wie Betriebsleiter Norbert Weigt sagt, ein Transparent mit Glückwünschen zum Ruhestand über das Gleis gespannt. Es mit der Tatra-Bahn schneidig zu durchfahren, ist die wirklich letzte Tagesaufgabe der frisch gebackenen Rentnerin. Dazu gibt es alkoholfreien Sekt, Blumen und viele gute Wünsche von Betriebsleitung, Betriebsrat und Kollegen, auch der Verein der Arbeitsgemeinschaft Görlitzer Straßenbahn fehlt nicht. Fotos werden geschossen, es werden die letzten sein, die Gabriele Schellenberg in der VGG-Dienstkleidung zeigen.

„Ich bin dankbar, dass es die Möglichkeit der Rente mit 63 ohne Abzüge gibt“, sagt sie. Besondere Vorhaben für die neue, große Freizeit indes hat sie nicht. „Noch nicht“, ergänzt sie, „denn jetzt will ich erst einmal schlicht und einfach genießen.“ Keine Frage, dass dazu künftig auch mal die eine oder andere Fahrt mit der Görlitzer Straßenbahn folgen wird.