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Endstation Pulvermühle

Ein Straßenbahn-Anhänger kam 1946 in Görlitz ins Rollen und nahm eine Schussfahrt über die Heilige-Grab-Straße. Ein Mann starb dabei.

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© Stadtwerke Görlitz

Von Ralph Schermann

Görlitz. Vor 70 Jahren ereignete sich ein Unfall, dessen dramatisches Ergebnis die Schaulustigen verblüffte: Durch einen Anprall an eine Hauswand wurde ein Straßenbahnwaggon schlagartig zwei Meter kürzer.

Noch gab es keine Gelenkzüge, wie sie heute zum Alltag der Görlitzer Verkehrsgesellschaft gehören. Damals zogen die meisten Triebwagen im Liniendienst noch gleichlange Beiwagen hinter sich her, von den Fahrgästen schlicht Anhänger genannt. Von anderen Städten kannte man solche Wagenzüge oft mit zwei Anhängern, Tests in Görlitz scheiterten jedoch an mehreren Steilstrecken. So blieb es bis auf ganz wenige Ausnahmen beim Betrieb mit einem Beiwagen, doch auch diesem konnte ein Gefälle auf der Strecke durchaus zu schaffen machen. Nämlich immer dann, wenn ein solcher Anhänger an einer Endstation nicht fest genug angebremst wurde. Das war nötig, damit der Triebwagen abkuppeln und über ein kurzes Umfahrungsgleis den Hänger für die Rückfahrt an der anderen Seite wieder ankuppeln konnte. Kuppelendstelle hießen solche Endstationen deshalb, und die Triebwagen mit den Fahrerständen an jeder Seite wurden Zweirichtungswagen genannt.

War nun ein Beiwagen nicht fest genug gebremst, bestand die Möglichkeit, sich bei einem Gefälle langsam von selbst in Bewegung zu setzen. Als es die Wendeschleife Virchowstraße noch nicht gab, bestand so eine Gefahr vor allem an der damaligen Kuppelendstelle vor dem Klinikum. Besonders schlimm war dabei ein am 12. September 1946 missglücktes Rangiermanöver. Der abgekuppelte Anhänger machte sich selbstständig und wurde das gesamte Gefälle über die Heilige-Grab-Straße durch nichts aufgehalten. Auch alle Kreuzungen und Einmündungen überquerte das immer schneller werdende Fahrzeug problemlos.

Das Ende der rund einen Kilometer langen Talfahrt indes überstand der Hänger nicht. An der Kurve rechts zum Grünen Graben sprang er aus dem Gleis und donnerte geradeaus weiter. Mit voller Wucht fand er sein Ende an der Mauer der „Pulvermühle“, des späteren VEB Volltuch. Ein Görlitzer konnte ob des rasanten Tempos des Beiwagens nicht rechtzeitig zur Seite springen und wurde von umherfliegenden Trümmern erschlagen. Mit spezieller Technik hatte die Feuerwehr lange zu tun, um den lädierten Hänger wieder aufs Gleis zu setzen, wo ihn ein Arbeitswagen der Görlitzer Straßenbahn ins Depot schleppte.