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„Ekel überwinden lässt sich lernen“

Rüdiger Nehberg weckt verkümmerte Instinkte, überlebt im Urwald und 25 Überfälle. Seine letzte Lebensaufgabe soll jetzt Frauen retten.

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Von Jochen Mayer

Überleben ist seit Menschengedenken das Wichtigste. Dies hat sich Rüdiger Nehberg zum Markenzeichen gemacht in der englischen Variante Survival. „Sir Vival“ wie der 77-Jährige salopp genannt wird, machte Überlebenstechniken von Armee-Einzelkämpfern und Urvölkern gesellschaftsfähig. Seine Bücher darüber erschienen in einer Auflage von fast drei Millionen. Am Donnerstag tritt der Überlebenskünstler in Dresden auf. Zuvor sprach er im SZ-Interview über einsame 25 Tage im Amazonas-Regenwald, den Unterschied zum Outdoor-Trend und seine letzte große Lebensaufgabe.

Herr Nehberg, schon Regenwürmer und Käfer gefrühstückt?

Heute gab es Survival-Sekt: Teichwasser mit lebenden Wasserflöhen. Die kribbeln so schön im Hals.

Was, wirklich?

(lacht) Natürlich lebe ich im Alltag nicht von Mehlwürmern. Aber im Extremfall weiß ich, was essbar ist, habe mehr Chancen, zu überleben.

Nerven solche Fragen wegen Kakerlaken auf dem Speiseplan?

Ich bin daran gewöhnt und schocke Fragensteller gern mit meinen Antworten. Das weckt aber auch Interesse fürs Thema. Ich hoffe, dass es mir noch gelingt, Insekten gesellschaftsfähig zu machen.

In China gibt es ganze Feinkostabteilungen davon.

Versuchsweise auch in Deutschland. Die sind aber wohl alle pleitegegangen. Ich bin also noch nicht auf dem richtigen Weg.

Wie wurden Sie als Konditor plötzlich Überlebenskünstler?

Der Beruf hat mich im wahrsten Sinne gut ernährt. Aber er erfüllte mich nicht. Die Adrenalinproduktion verkümmerte, ich fühlte mich unterfordert und wollte mehr Aufregung. Den Ausgleich fand ich beim Reisen auf eigene Faust. Mit 17 fuhr ich mit dem Fahrrad nach Marokko, um Schlangenbeschwörung zu lernen. Meine Eltern dachten, ich sei in Paris. Ein Freund schickte ihnen jede Woche eine vorbereitete Postkarte. Als sie die Wahrheit hörten, waren sie begeistert. Von da an hatte ich freie Hand, zu reisen, wohin ich wollte.

Aber da waren Sie doch noch in der Ausbildung?

Ja. Aber ich suchte meine Arbeitsplätze so, dass ich im Sommer zwei Monate unbezahlten Urlaub hatte. Ich konnte mir schon damals nicht vorstellen, dass Backofen und Sauerteig der Nabel der Welt für mich sind. Als ich selbstständig wurde, habe ich es weiter so gehalten.

Wie kamen Sie zu den Überlebenstechniken?

In den USA hörte ich davon in den 60er-Jahren. Ich merkte sofort: Das ist mein Ding, was mir fehlte, wenn ich mich mal nicht weg wagte von Straßen, von der Zivilisation. Und ich spürte, dass das andere Individualisten auch interessiert und schrieb Bücher. Plötzlich hatte ich eine zweite Einnahmequelle, Vorträge kamen dazu, Survivaltraining. Und ich erfuhr, wie viel Sehnsucht in Menschen steckt nach selbstbestimmten Abenteuern.

Woher kommt dieses Bedürfnis?

Viele haben sich durch Zivilisation und Luxus weit vom Natürlichen entfernt. Ich versuche, verkümmerte Überlebens- und Urinstinkte zu reaktivieren, die wir wie freilebende Tiere noch besitzen. Jeder sollte das machen, was körperlich und geistig möglich ist.

Was wollen Sie mit den Büchern erreichen?

Schon im ersten „Die Kunst zu überleben“ gab ich Anleitungen, Natur nicht als Bedrohung zu erleben. Regen, Wind, Kälte können Partner sein. Das beschert schon Abenteuer: übernachten mit einfachsten Mitteln, etwas über Feuer erfahren, Angst vor Schlangen überwinden. Ich ging bei Experten in die Lehre, habe Urvölker beobachtet und mich in die Lage versetzt, sogar nackt, alleine, abseits der Zivilisation klarzukommen. Mit 68 ließ ich mich im Amazonaswald absetzen. Nach drei Wochen war ich zurück. Ich hatte nur Turnschuhe, Badehose und einen Fotoapparat dabei. Es blieb das Glücksgefühl, fit wie ein Urindianer zu sein.

War das nicht lebensgefährlich?

Das war der Reiz. Vor jeder Reise analysiere ich sämtliche denkbaren Gefahren und weiß, worauf ich mich einlasse, wie ich mich behaupten will gegen Widrigkeiten. Ich wollte nie lang und langweilig leben, lieber kurz und knackig. Glücklicherweise lebe ich schon lang und knackig.

Und doch hatten Sie im Regenwald mit wilden Tieren und Giftpflanzen zu tun.

Es gibt international gültige Tests, um Pflanzen auf Genießbarkeit zu prüfen. „Wilde“ Tiere waren immer berechenbare Partner für mich. Ich weiß, wie schnell eine Schlange ist, dass ein Jaguar Menschen respektiert oder wie ich Wildschweine mit der Hand fange. Und ich kann wochenlang ohne Lebensmittel auskommen. 1981 ging ich von Hamburg nach Oberstdorf, knapp 1 000 Kilometer, nur im Overall, als Nahrung, was ich unterwegs fand – Heuschrecken, Würmer. Für mich das wichtigste Training, bevor ich zu den Yanomami-Indianern aufbrach. Ich wollte wissen, wie lange ich ohne Ausrüstung zurechtkomme. Ich nahm 25 Pfund ab. Nach drei Tagen starb das Hungergefühl. Diese Erfahrung half bei vielen Reisen. Auch bei meinen Atlantik-Überquerungen per Tretboot, Baumstamm, Bambusfloß.

Wie lässt sich das planen?

Ich war auf alles Denkbare vorbereitet. Wenn das Floß zerbrochen wäre, hätte ich mir mit den Einzelteilen ein Provisorium zusammengeschnürt, wäre mit der Strömung in Amerika gelandet. Bei einem Kapitän hatte ich navigieren gelernt, eine Flinte schützte mich gegen Piraten. Kampfschwimmer hatten mir die Angst vorm Wasser abtrainiert. Sie versenkten mich gefesselt in fünf Meter tiefem Wasser. Danach verrieten sie mir ihre Tricks. Ich merkte, wie viel Undenkbares möglich ist. Für mich war das wie Schach mit dem Abenteuer – immer überlegen, was kann mir alles passieren? Dafür wollte ich immer noch einige Asse im Ärmel haben.

Sie hatten immer einen Notplan?

Ja, mehrere, auch für die Tour auf dem Blauen Nil, bei dem ein Freund ums Leben kam. Wir waren vorgewarnt worden, hatten den Ernstfall trainiert: Wie findet man sich wieder, wenn man versprengt wurde? Jeder von uns dreien hatte einen Überlebensgürtel mit wasserdichtem Gefäß für Tabletten, Angelhaken, Streichhölzern und Kleinigkeiten, dazu Messer, Revolver. Als uns zwölf Männer überfielen, ging mein Freund auf sie zu, wollte sie begrüßen. Doch sie rissen die Gewehre hoch, schossen ihm in den Kopf. Uns verfehlten die Kugeln knapp. Bevor sie nachladen konnten, schossen wir zurück. Schon nach dem ersten Schuss, den sie nicht erwartet hatten, flohen sie. Wir entkamen, lebten fünf Tage in Panik. Zusammen mit dem Militär haben wir die Täter gefasst.

Hatten Sie oft Angst?

Diese fünf Tage waren die längste Phase meiner Angst. Sonst war die Angst auf Momente oder Stunden begrenzt. Ich habe 25 bewaffnete Überfälle überlebt, manche mit Survival, andere mit Glück. Man muss lernen, augenblicklich auf alles zu verzichten, wenn man damit sein Leben retten kann. In gefährlichen Städten habe ich mindestens zwei Geldscheine in verschiedenen Taschen dabei – als lebenserhaltende Maßnahme.

Da geht ja offenbar die größte Gefahr vom Menschen aus, nicht von der Natur.

Unbedingt, die Natur ist kalkulierbar. Wer über den Ozean fährt weiß, dass es salzig und nass wird, mitunter stürmt. Darauf kann man sich einstellen. Aber der Mensch bleibt unkalkulierbar. Der lässt sich nur 100-prozentig einplanen, wenn man mit dem Allerschlimmsten rechnet und sich freut, wenn es weniger schlimm kommt.

Was ist denn der Unterschied zwischen Ihrem Survival und den heutigen Outdoor-Trends?

Der entscheidende ist die meist luxuriöse Hightech-Ausrüstung beim Outdoor, wenn Design und Marke wichtiger werden als Zweckmäßigkeit. Und bei organisierten Touren sind sie so abgesichert, versichert, dass einem nichts mehr passieren kann. Da kommt pure Langeweile auf. Das wäre für mich nicht reizvoll. Ich bin noch nie organisiert gereist. Notfalls komme ich mit Steinzeitmethoden klar, mit Flintstein und Grabstock. Damit kann man Würmer ans Tageslicht pflügen, Mulden im Wald scharren, mit Humus füllen und übernachten. Mein Zelt ist eine Bauplane – gleichzeitig Poncho, Boot, Hängematte, notfalls Kochtopf. Wie das funktioniert, steht in meinen Büchern.

Fanden Sie viele Nachahmer?

Ja. Survival ist längst ein Boom. Abenteuer kann sich jeder bescheren. Ein Wochenende alleine in der Natur ist ein Anfang. Oder mal drei, vier Tage marschieren, abends sich ein Lager machen, ein Würmchen suchen zum Angeln. Wenn Fische nicht beißen, muss der Wurm als Nahrung genügen. Nichts umkommen lassen. Wiesen und Wälder sind wahre Supermärkte für Kenner, Insekten und Würmer im Notfall die Steaks des kleinen Überlebenskünstlers. Ekel überwinden lässt sich lernen. Aber ich genieße auch Komfort, Frühstück mit knusprigen Brötchen. Das lerne ich schätzen durch die Entbehrungen.

Wie haben Sie sich bei Ihren Touren verständigt?

Ich bemühte mich stets um ein Grundvokabular von gut 100 Wörtern. Ich bekam dann tolle Rückkopplung, wenn Menschen merken, wie man sich um Verständigung bemüht. Wenn es auf jedes Wort ankommt, wie bei unseren Konferenzen, dann hatten wir Übersetzer, denen wir vertrauten.

Wie kamen Sie dazu, sich für Menschenrechte zu engagieren?

Ursprünglich waren meine Reisen geprägt von Abenteuerlust, Spaß am Risiko, Freude am Verrückten. Das Abenteuer bekam Sinn, als ich Zeuge schlimmer Verbrechen wurde beim Bürgerkrieg im Regenwald Brasiliens, damals von der Regierung geleugnet. Ich hatte aber gesehen, wie 65 000 bewaffnete Goldsucher das Indianervolk ausrotteten. Als ich die Ohnmacht der Indianer erlebte, die mit Pfeilen gegen Flinten keine Chance hatten, begann mein Engagement. Ich glaubte, dass ein Buch die Uno aufrütteln würde. Aber nichts tat sich. Erst mit Survival-Aktionen entstand eine starke Lobby. 20 Jahre dauerten die Mühen, dann gab es Gerechtigkeit für die Ureinwohner. Zu der Zeit las ich „Die Wüstenblume“, und der Kampf gegen Genitalverstümmelung wurde mein neues Thema.

Wieso fühlten Sie sich berufen?

Ich erlebte bei meinen Reisen viel Positives in Islam-Regionen mit unbeschreiblicher Gastfreundschaft. Natürlich bin ich nicht blind gegenüber Krawallmachern und Terroristen. Da wird Religion missbraucht für politische Ziele. Als ich hörte, dass 90 Prozent der Opfer Muslimas sind und der Brauch falsch mit dem Koran begründet wird, da hatte ich die Idee, die höchsten muslimischen Geistlichen dazu zu bringen, diesen Brauch zur Sünde zu erklären. Uns hielten viele für verrückt. Greenpeace und Amnesty International rieten, einen Verein zu gründen, um unabhängig zu sein.

Haben Sie etwas erreicht?

Nach nur sechs Jahren hatte unser Verein Target 2006 die Basis geschaffen. Meiner Frau Annette, einer Arzthelferin, und mir, dem Ex-Bäcker, wurde von den höchsten Geistlichen des Islam eine internationale Konferenz an der Al-Azhar-Uni in Kairo gestattet, vergleichbar mit dem Vatikan der Katholiken.Dort verurteilten die Gelehrten die Praxis der Genitalverstümmelung bei Frauen. Sie brachten die Größe auf, ihre lebenslang vertretene Meinung zu revidieren und zur Sünde, zum Verbrechen, zum Teufelswerk zu erklären. Ich habe mich in Demut vor den Männern verneigt.

Fanden Sie danach eine weitere Lebensaufgabe?

Ja. Zunächst dachten wir, der Job sei getan. Aber die Scham, über den Unterleib der Frau zu sprechen, ist leider stärker geblieben als der Verstand. Jetzt sind wir dabei, diesen Beschluss, den sowohl der Großmufti als auch der Bundespräsident als „historisch“ bezeichneten, Realität werden zu lassen. Inzwischen haben wir alle führenden Geistlichen hinter uns. Wovon ich träume ist, die Botschaft über Mekka in die Welt zu verbreiten.

Da haben Sie ja ein volles Programm als Rentner.

Ich habe mehr Programm als Lebenszeit. Wir haben die Azhar-Konferenz als Predigt-Grundlage für die Imame dieser Welt im Goldenen Buch dokumentiert. Millionen müssten davon verteilt werden, was an finanzielle Grenzen stößt. Deshalb arbeiten wir an einer Internet-Variante. Ein Konferenzteilnehmer sagte zu den Verstümmelungen: „Das ist der größte Bürgerkrieg aller Zeiten, seit 5 000 Jahren, die Gesellschaft gegen die Frauen, mit 8 000 Opfern pro Tag.“ Das muss beendet werden.

Haben Sie bei all Ihren Aktivitäten auch was über sich erfahren?

Ja, dass sich niemand, egal welchen Geschlechts und Alters, für zu gering halten sollte, etwas zu verändern, das ihn stört. Darüber werde ich auch in Dresden sprechen, reich illustriert aus meinem kunterbunten Leben. Mein Vortrag soll allen Mut machen, die noch Träume haben. Ich erinnere mich gern an meinen ersten Dresdner Auftritt kurz nach der Wende.

Damals saß auf Plakaten eine Vogelspinne auf Ihrem Kopf.

Das macht neugierig. Und es soll unnötige Ängste abbauen. Ich bin auch ein Verteidiger diskriminierter Tiere. Zum Beispiel Schlangen. Ich bewundere, wie sie sich ohne Beine und Arme durchs Leben schlagen, so verfeindet, verfemt. Aber wenn man sie kennt, bekommt man eine andere Einstellung. Jedes Lebewesen hat das Recht, sich zu verteidigen.

Haben Sie Kinder?

Eine Tochter, sie ist Schauspielerin.

Hat Ihr Survival auch eine sportliche Dimension?

Eine? Viele! Survival basiert auf sportlichen Disziplinen: Ausdauerläufe mit und ohne Gepäck, bei Tag, Nacht, Wärme, Kälte, mit guter und schlechter Garderobe. Oder Wassersport, Klettern, Kampfsport, Schießen. Das alles in einfacher Form, unter Stress bis zur Erschöpfung. Sogar Akrobatik kann Wunder wirken, weil man sich so für Gastfreundschaft bedanken kann. Ich bin kein Akrobat, habe mich gern mit Zaubertricks revanchiert.

Rüdiger Nehberg im Dresdner Theater Wechselbad: „Querschnitt durch ein aufregendes Leben“. Donnerstag, 20 Uhr, Vorverkauf (Wechselbad, „Globetrotter“ Dresden): 12 Euro, mit Globetrotter-Card 10 Euro, Abendkasse: 14 Euro.

www.target-nehberg.de