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Eisenbahner ohne Rückfahrkarte

Die Reichsbahndirektion Breslau flüchtete 1945 in neue Dienstorte. Die erste Ersatzstation war Görlitz.

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© Pawel Sosnowski

Ab Januar 1945 wurde die Reichsbahndirektion Breslau vor der näher rückenden Front evakuiert. Der damalige Reichsbahn-Oberinspektor Herbert Klammer hat später seine Erinnerungen an diese Zeit festgehalten. Der Berliner Verein Verkehrsgeschichtliche Blätter hat die Irrfahrten dieser Verlegung von Breslau bis Erfurt, Prag und Hannover publiziert. Mit freundlicher Genehmigung der heute im Taunus lebenden Witwe des Autors, Ingeborg Klammer, berichtet die SZ Görlitz hier exklusiv über den Verlegungsabschnitt von Breslau bis Görlitz.

Das 1910 erbaute Gebäude der Reichsbahndirektion Breslau befand sich auf der Malteserstraße.
Das 1910 erbaute Gebäude der Reichsbahndirektion Breslau befand sich auf der Malteserstraße. © Sammlung I. Klammer
Um von dort mit Sonderzügen nach Görlitz zu kommen, bekamen diese Züge Namen (hier: „Oderland“), ...
Um von dort mit Sonderzügen nach Görlitz zu kommen, bekamen diese Züge Namen (hier: „Oderland“), ... © Sammlung I. Klammer
... die Beamten besondere Fahrausweise – und Verpflegung am Zug.
... die Beamten besondere Fahrausweise – und Verpflegung am Zug. © Sammlung I. Klammer

Mitte Januar 1945 verlief die Front bereits im Raum Schlesien. Frauen und Kinder wurden aufgefordert, Breslau zu verlassen. Für diesen Fall war die Stadt Görlitz als Sitz der Reichsbahndirektion Breslau bestimmt worden. Die Direktionsbüros sollten in geschlossenen Dienstzügen befördert werden. Die Hauptstrecke über Liegnitz und Kohlfurt nach Görlitz war aber schon bedroht. Es blieb nur übrig, den Weg über Königszelt und Hirschberg entlang dem Gebirge zu wählen.

Da in den geschlossenen Dienstzügen Familienangehörige nicht befördert werden sollten, entschloss sich die Direktion angesichts des unbeschreiblichen Andrangs von Flüchtlingen auf den Bahnhöfen, den Familien der Bediensteten besondere Züge bereitzustellen, die durch Bahnschutzpolizei bewacht wurden und nur mit besonderen Ausweisen benutzt werden durften. Diese Züge erhielten Decknamen. Zum Packen blieb wenig Zeit, zumal jede Person nur 30 Kilogramm Gepäck mitnehmen durfte. Es wurde ja noch die Überzeugung vertreten, in ein paar Wochen wieder nach Breslau zurückzukommen und dort alles noch unversehrt vorzufinden.

Die Beförderung erfolgte in vier Staffeln. Die Abreise des Personalbüros war zum Beispiel auf den 23. Januar, 9 Uhr, ab dem Güterbahnhof Breslau (Freiburger Bahnhof) vorgesehen. Dieser Zug trug die Bezeichnung „Oderland“. Wie zu erwarten, fuhr der Zug verspätet ab, nämlich 11.25 Uhr. Es herrschte eine Kälte von minus 20 Grad Celsius, und es machte sich bezahlt, dass ich mir zwei Anzüge übereinander und unter den Winter- auch noch meinen Sommermantel gezogen hatte.

Mehrmals wurden wir aufgehalten, weil die Strecke durch vorausfahrende Züge verstopft war. Langsam arbeitete sich unser Zug dann die Gebirgsstrecke hinauf. In Waldenburg war der Bahnsteig dicht besät von Flüchtlingen. Unser Dienstzug wurde geradezu gestürmt, und in wenigen Augenblicken waren selbst die Gänge restlos ausgenutzt. Auch in Hirschberg mussten wir längere Zeit auf die Weiterfahrt warten, weil die weiteren Bahnhöfe erst wieder Platz für die Aufnahme der folgenden Züge schaffen mussten. Am 24. Januar, gegen 8.30 Uhr, lief unser Dienstzug schließlich in Görlitz ein. Wir waren am Ziel unserer Ausweichfahrt angekommen und froh, endlich aussteigen zu können.

Als die Spitzen der Roten Armee bereits einen Halbkreis um Breslau zu bilden begannen und vereinzelte Geschosse schon in die Stadt einschlugen, verließ auch der Präsident der Reichsbahndirektion Breslau mit dem Sonderstab am 26. Januar 1945, Abfahrt 18.48 Uhr, in einem Befehlszug und mit Zustimmung des Reichsverteidigungskommissars Breslau. Dieser Kommissar war kein anderer als der Breslauer Gauleiter. Der Befehlszug traf am 27. Januar, um 6 Uhr, in Görlitz ein. In der Festung Breslau, an die sich die Sowjetarmee von drei Seiten ständig näher heranschob, war für die Lösung der Eisenbahnaufgaben lediglich eine Frontstelle unter Leitung des Oberreichsbahnrates Fraunholz zurückgeblieben. Diese Frontstelle behielt ihren Sitz im Geschäftsgebäude der Reichsbahndirektion Breslau auf der Malteserstraße 13.

Solange die Festung Breslau vom Feind noch nicht völlig eingeschlossen war und die Bahnverbindung zwischen Görlitz und Breslau über Hirschberg noch bestand, hatte die Reichsbahn einen Kurierverkehr zwischen beiden Städten eingerichtet. Täglich verkehrte ein Triebwagenzugpaar zwischen beiden Städten. Dieser Kurierzug durfte nur mit besonderen Kurierausweisen von den jeweils als Kurier bestimmten Bahnbediensteten benutzt werden. Auch ich selbst war als Kurier eingeteilt und fuhr am 5. Februar noch einmal nach Breslau. Vom Bahnhof Görlitz startete dieser Kurierzug pünktlich um 11 Uhr.

In Görlitz hatte sich ein scheinbar normaler Dienstbetrieb etabliert. Offiziell hoffte man noch, bald nach Breslau zurückkehren zu können. Bedenken oder gegenteilige Meinungen wagte niemand zu äußern. Es wäre als „staats- oder kriegsfeindliche Propaganda“ verfolgt worden. Doch als Mitte Februar 1945 die Verlegung der ersten Bediensteten der Reichsbahndirektion Breslau, Sitz Görlitz, in Richtung Erfurt angeordnet wurde, schwanden die Hoffnungen auf eine baldige Rückkehr.

Herbert Klammer gehörte zum Personal des Dienstzuges, der mit Bediensteten und Familien in der Nacht zum 18. Februar Görlitz verließ. Es blieb nicht die letzte Verlegung. Erst im August endeten die Fahrten in Hannover. Die Reichsbahndirektion Breslau wurde aufgelöst.

Bearbeitung: Ralph Schermann