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Eintauchen in die sorbische Sprache

Vor 20 Jahren startete das Witaj-Programm für Vorschulkinder. Anfangs gab es viel Zweifler, doch das hat sich geändert.

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© dpa

Von Miriam Schönbach

Bautzen. Ein bisschen Müdigkeit hängt noch im Raum. Brotdosen klappern beim Frühstück in der Ostroer Kindertagesstätte. Leiterin Agnes Nawka setzt sich mitten in die Gruppe und verscheucht mit ihrer Fröhlichkeit den Morgenblues der Mädchen und Jungen. „Guten Appetit“, ruft sie auf Sorbisch in die Runde. Die Kinder beißen in ihre Nutella-Brötchen und Schinkenbrote, während sie vielleicht noch ihren Träumen in der Nacht hinterherhängen. Doch schon bald werden die Kinder munterer, plaudern auf Sorbisch, obwohl es nur für ein knappes Drittel die Muttersprache ist.

„Dzìcacy raj“ – Kinderparadies – nennt sich die Einrichtung des Sorbischen Schulvereins (SSV). In seiner Trägerschaft sind außer Sachsen und Brandenburg noch vier weitere Witaj-Kindertagesstätten, in denen die Steppkes spielerisch im Alltag an das Sorbische herangeführt werden. Die Wiege des Witaj-Modells stand vor 20 Jahren in Brandenburg. Am 1. März 1998 übernahm der SSV die Trägerschaft des Kindergartens in Cottbus-Sielow, um das fast vergessene Wendisch neu zu beleben. Zwölf Kinder waren in der ersten Gruppe. Witaj ist das sorbische Wort für Willkommen.

Viele Zweifler am Projekt

An den Gegenwind vor 20 Jahren erinnert sich SSV-Vorsitzende Ludmila Budar noch gut. „Es gab in der sorbischen Bevölkerung viele Zweifler am Projekt“, sagt sie. Doch schnell weicht die Skepsis der Begeisterung. „Allein in den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der geförderten Gruppen im Freistaat Sachsen von 82 auf 107 erhöht“, sagt Ludmila Budar. Neben den SSV-Einrichtungen gebe es weitere Kitas, in denen die Vermittlung der sorbischen Sprache unterstützt werde – entweder durch partielle Immersion oder ein Sorbisch-Angebot.

Unter dem Dach des Schulvereins tauchen täglich 600 Kinder im Vorschulalter in ein Sprachbad ein. Immersion nennen es Experten. Für Agnes Nawka bedeutet das, dass sie die Kinder mit „Dobre Ranje“ begrüßt und mit „Božemje“ verabschiedet, dazwischen bleibt sie immer bei ihrer Muttersprache. Gerade fragt sie die Kinder auf Sorbisch, wer den Tischdienst übernehmen will. Zwei Freiwillige melden sich und holen einen Eimer. „Wenn die Kinder neu in die Einrichtung kommen, nutzen wir erst kurze Sätze und immer wieder dieselben. Es ist wichtig, dass sich die Kleinen wohlfühlen“, sagt die 57-Jährige. Schließlich kommen manche in eine ganz unbekannte Umgebung. So wie Jurig Seifert. Der Vierjährige wohnt in Dresden. „Die Mutter kommt aus dem Ort, die Großeltern leben hier, seine Schwester hat schon die Einrichtung besucht“, sagt Agnes Nawka. Auch die fünfjährige Gertrud Volkmar musste erst mal in die sorbische Sprache „eintauchen“. Ihre Eltern sind beide Deutsche. Vor einem Jahr kam sie ins „Kinderparadies“. Inzwischen habe das Mädchen einen Wortschatz und eine Aussprache wie ihre Spielkameraden aus sorbischen Familien. Das Los entschied in diesem Jahr sogar, dass Getrud Volkmar die Braut bei der Vogelhochzeitsfeier sein durfte.

Alltagssprache ist Sorbisch

Der Tischdienst bringt den Eimer wieder weg. Jetzt ist Spielzeit. Manche legen sich auf den Boden und bauen ihren Zoo weiter, die Mädchen verschwinden natürlich an die Frisierkommode, ein paar setzen sich an den Tisch und stechen Bilder. Nachher geht es noch raus in die Natur. „Unsere Alltagssprache ist immer Sorbisch. Die Kinder sollen in jedem Bereich ihren Wortschatz erweitern“, sagt die Kita-Leiterin. In ihrem Haus kümmern sich zwei Erzieher, zwei Praktikanten und eine Vorruheständlerin um 33 Krippen- und Kindergartenkinder. Dazu gibt es 20 Hortplätze. So wird abgesichert, dass die Schüler ohne Muttersprachler zu Hause am Unterrichtsstoff dranbleiben können und bei den Hausaufgaben Hilfe bekommen.

Denn das Witaj-Projekt wird an zahlreichen Schulen mit dem Konzept 2plus fortgeführt. „Damit haben wir den Grundstein für ein Spracherwerbskonzept von der Krippe bis zum Abitur gelegt,“ sagt Ludmila Budar. Manche der Witaj-Kinder aus der ersten Generation haben bereits ihr Abitur am Sorbischen Gymnasium Bautzen oder am Niedersorbischen Gymnasium in Cottbus in der Tasche.

„Feststellen müssen wir aber, dass wir mit dem Projekt den Assimilationsprozess derzeit nicht aufhalten können. Dazu sind die Kinderzahlen zu niedrig“, sagt die SSV-Vorsitzende. An die Zukunft des Projekts glaubt sie trotzdem – auch deshalb sorgt der Schulverein in seinen Einrichtungen für sorbischsprachige Erzieher und den nötigen Pädagogen-Nachwuchs. Auch Quereinsteiger werden gern ausgebildet.

Agnes Nawka schaut auf die Uhr. Die Natur ruft. Später zum Mittagschlaf wird sie ihren Schützlingen ein sorbisches Märchen erzählen oder eine Geschichte vorlesen. „Wir arbeiten viel mit Bilderbüchern, Literatur und Stegreifspielen. Mimik und Gestik sind wichtig. Das Witaj-Projekt ist eine große Chance für den Erhalt unserer Sprache und Traditionen“, sagt die Sorbin. Dann geht sie mit den Kindern in die Garderobe. Alle mummeln sich dick ein. Von der morgendlichen Müdigkeit ist da im „Dzìcacy raj“ nichts mehr zu spüren.