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„Einkaufsfahrten nach Dresden gab es schon vor 1989“

Pavlina Kourova über das tschechische Weihnachtsfest in den letzten 100 Jahren.

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Von Steffen Neumann

Nordböhmen. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts durch das Weihnachtsfest beschreiben, das war die Absicht von Pavlina Kourova und Petr Koura. SZ sprach mit der Historikerin und Journalistin über Bräuche, sehnliche Wünsche und die Rettung des Christkinds.

Weihnachten in den 1930ern: Früher stand oft ein Schlitten unterm Weihnachtsbaum.
Weihnachten in den 1930ern: Früher stand oft ein Schlitten unterm Weihnachtsbaum. © Verlag Academia Prag
Weihnachten in den 1980ern: Da waren eher Skibrille und Fahrrad die Renner untern Baum.
Weihnachten in den 1980ern: Da waren eher Skibrille und Fahrrad die Renner untern Baum. © Verlag Academia Prag
Unsere Gesprächspartnerin: Pavlína Kourová wurde 1971 in Prag geboren. Sie arbeitet als Historikerin beim Institut für zeitgenössische Geschichte der Akademie der Wissenschaften und als stellvertretende Chefredakteurin der Zeitschrift „Xantypa“. Weihnacht
Unsere Gesprächspartnerin: Pavlína Kourová wurde 1971 in Prag geboren. Sie arbeitet als Historikerin beim Institut für zeitgenössische Geschichte der Akademie der Wissenschaften und als stellvertretende Chefredakteurin der Zeitschrift „Xantypa“. Weihnacht © Foto: privat

Frau Kourova, Sie haben gemeinsam mit Ihrem Mann ein Buch über Weihnachten in Tschechien zwischen 1918 und 1989 geschrieben. Wie kam das zustande?

Wir interessieren uns für die Geschichte des 20. Jahrhunderts und hatten die Idee, sie anhand der emotionalsten Feiertage im Jahr aufzuschreiben. In unserem Buch finden Leser nicht nur die Schilderung der weihnachtlichen Atmosphäre im Laufe der Zeiten und wie die Feiertage in normalen Familien verlebt wurden, sondern auch, wie die Präsidenten feierten oder Menschen in extremen Situationen – im Konzentrationslager, als Zwangsarbeiter im Arbeitslager, im Schützengraben an der Front, in der Illegalität oder in kommunistischen Gefängnissen und Lagern. Dabei ist uns klar geworden, wie unglaublich stürmisch das 20. Jahrhundert war und wie sich die Wendungen der Geschichte und politischen Ideologie in diesem eigentlich so intimen geistlichen und familiären Fest widerspiegeln.

Der Zeitraum von 1918 und 1989 ist sicher kein Zufall.

Das Buch beginnt mit dem ersten Weihnachten nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Entstehung der Tschechoslowakei und es endet 1989 mit dem ersten Weihnachten nach der Samtenen Revolution. Beide Weihnachten verlebten die Tschechen in Euphorie über die neue Freiheit und voller Hoffnung auf die Zukunft.

Was hat Sie am meisten überrascht?

Dass gerade die Gefangenen in nationalsozialistischen oder kommunistischen Gefängnissen und Lagern oft eine unglaubliche Anstrengung entwickelten, um wenigstens mit einer Kleinigkeit an die Geburt Christi zu erinnern. Beim Verfassen des Buches wurde uns bewusst, wie sehr unsere Weihnachten im Vergleich zu einigen Jahren, die noch gar nicht so weit zurückliegen, die reinste Idylle sind. Ein weiterer Punkt waren die ungewöhnlichen Geschenke. Unter bestimmten Umständen konnten eine Weihnachtsfigur aus Brot, Zahnpasta, eine Blechschüssel mit Wodka, ein Stück Seife oder Kaugummi aus Amerika ungeahnte Freude bereiten.

Bereits Ende der 1920er-Jahre wurden so moderne Geräte wie Staubsauger verschenkt. Und einige Geschenke bleiben wohl immer unverändert, weil Jungs eben Autos und Mädchen mehr die Puppen lieben.

Das stimmt, schon damals behauptete die Werbung, dass eine moderne Frau ohne Staubsauger nicht auskommt. Die Anzeigen bewarben in den 1930er-Jahren noch weitere elektrische Geräte wie Bügeleisen, Höhensonnen, Kaffeemaschinen, Toaster, Heizkissen, Kühlschränke und sogar Massagegeräte zum Abnehmen. Ab den 1920er- Jahren gehörten Radios zu den beliebtesten Wünschen, auch Grammophone. Für die meisten war das aber unbezahlbar. Ein traditionelles Weihnachtsgeschenk in Tschechien ist bis heute das Buch. Aber Autos und Puppen wünschen sich die Kinder immer, daran hat sich in den Jahren wirklich nichts geändert.

Die größte Veränderung brachte der Sozialismus. Die Partei hatte mit dem Christkind, tschechisch Jezisek, ein Problem, wie mit Weihnachten als christliches Fest überhaupt.

Die Kommunisten versuchten, in den 1950er-Jahren nach sowjetischem Vorbild das Christkind durch Väterchen Frost zu ersetzen. Trotz einer groß angelegten Kampagne blieb es beim Versuch. In den Familien kümmerte sich weiter das Christkind um die Bescherung.

Mit unseren Weihnachten ist der Film „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ eng verbunden. Gibt es auch deutsche Einflüsse in der tschechischen Weihnacht?

Ohne „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ ist auch bei uns Weihnachten undenkbar. Umgekehrt haben wir den Weihnachtsbaum und den Adventskalender aus Deutschland übernommen – und sicher noch einige Dinge mehr.

Fast schon grotesk verlief in der DDR manche Weihnachtsvorbereitung. Wir kauften unseren Schokochristbaumschmuck in Tschechien. Von Tschechen weiß ich, dass sie sich in der DDR Weihnachtsbaumständer besorgten.

Bei unseren Gesprächen mit Zeitzeugen wurden in der DDR besorgte Geschenke häufig erwähnt. Einer sehnte sich vergeblich nach Modellbahnzügen der TT-Reihe, weil die seine zwei besten Freunde hatten. Eine andere wünschte sich sehnlich einen Fotoapparat der Dresdner Marke Certo, den sie dann auch bekam.

Vor 1989 gab es regelmäßige Einkaufsfahrten in die DDR, vor allem nach Dresden und Berlin, um dort Dinge zu kaufen, die es bei uns nicht gab oder die zu teuer waren, zum Beispiel Kinderschuhe, Winterjacken und Gardinen. Auch Linsen wurden mitgebracht – ein traditionelles Neujahrsgericht bei uns –, weil es sie eine Zeit lang in der CSSR nicht gab.

Nachdem Sie in die Geschichte eingetaucht sind, wie gefällt Ihnen das Weihnachtsfest heute?

Einige Bräuche bleiben. Immer noch werden Plätzchen gebacken und Heiligabend gibt es Karpfen mit Kartoffelsalat. Der Weihnachtsbaum wird geschmückt, im Fernsehen das Weihnachtsmärchen angeschaut und viele gehen zur Mitternachtsmesse in die Kirche. Aber vieles hat sich aber auch verändert. Wir schicken keine Weihnachtskarten mehr, sondern SMS und Fotos über Handy. Und das Christkind bekommt Konkurrenz von Santa Claus. Vor einigen Jahren gab es in Tschechien sogar eine Petition „Rettet das Christkind!“

Gespräch: Steffen Neumann