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Einfach nur Menschen

Deutsche und türkische Schüler lernen sich fernab der großen Politik näher kennen. Görlitz bot sich als Ort dafür an.

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© Pawel Sosnowski/80studio.net

Von Ines Eifler

Mehmed aus Ankara sprüht vorsichtig goldene Sprenkel in den blauen Kreis. Bianca aus Hamburg hält die Schablone fest, damit der Kreis wirklich rund wird. Im Schatten der Weiden im Uferpark gestalten sie zusammen ein Graffito. Ein anderes Team klebt bunte Sterne auf eine Leinwand, ein Mädchen bekommt ein filigranes Tattoo auf die Hand gemalt. Es riecht nach Farbe, leise läuft orientalische Musik. „Hat jemand mal weiß?“, ruft Bianca in die Gruppe und bekommt die gewünschte Dose postwendend zugeworfen.

Mehmed und Bianca (17 und 18) gehören zu den 44 Schülern, die sich gerade zu einer zweiwöchigen deutsch-türkischen Jugendbegegnung, einem Kreativcamp, in Görlitz aufhalten. Etwas mehr als die Hälfte von ihnen kommt aus verschiedenen Regionen der Türkei, die anderen aus allen möglichen Orten zwischen Rügen und Augsburg. Versuchen sich die einen an Graffiti und Straßenkunst, entdecken andere mit ihren Kameras die Stadt, entwickeln in der Jugendherberge Fotos, drehen Filme, schreiben und produzieren Songs oder lernen in der Karateschule auf der Melanchthonstraße Hip-Hop-Tanz. In fünf kreativen Workshops und deutsch-türkisch gemischten Gruppen lernen die Schüler einander kennen, erfahren dabei viel über sich und den anderen und nebenbei auch etwas über die Kultur des fremden Landes. Dazu gibt es Sprachkurse und Erfahrungsaustausche in Kleingruppen.

„Ich war vorher noch nie in Deutschland“, erzählt Mehmed. Wie zahlreiche andere junge Türken hatte er sich um ein Stipendium der gemeinnützigen Stiftung Mercator beworben, die internationale Verständigung fördert. Das Stipendium ermöglicht den 44 Schülern die Teilnahme am Camp. „Mein Leben erschien mir so normal und langweilig“, sagt Mehmed. „Ich hatte große Lust, neue Leute kennenzulernen, Freundschaften zu schließen, mehr über eine andere Kultur zu erfahren und mein Deutsch zu verbessern.“ All diese Wünsche, sagt er, hätten sich in den vergangenen zehn Tagen vollends erfüllt.

Für Bianca ist die Begegnung mit der türkischen Kultur nichts Fremdes. „Ich gehe mit vielen Deutschtürken zur Schule“, sagt sie. Anders sei es trotzdem: Die in der Türkei lebenden Jugendlichen, die sie hier kennenlerne, seien sehr interessiert an allem, was Deutschland betrifft. „Für meine Mitschüler hingegen ist Deutschland Alltag.“ Am Anfang habe sie etwas Bedenken gehabt, ob die aktuellen politischen Spannungen zwischen der Türkei und Deutschland das Camp überschatten könnten. Aber keine Spur. „Es ist gar kein Thema. Hier sind wir einfach nur Menschen. Uns freuen oder belasten die gleichen Dinge. Und es ist ziemlich egal, woher wir kommen.“

Genau das ist Ziel des interkulturellen Camps. Niels Zieglasch von der Schüleraustauschorganisation Youth for Understanding (YFU) und Susann Widder von der Leipziger Hero Society organisieren und begleiten die Begegnung. Für beide Organisationen ist es ein Pilotprojekt, das sie wegen der malerischen Kulisse gern in Görlitz umsetzen. „Uns geht es vor allem darum, dass die jungen Menschen ihre Persönlichkeit entfalten können“, sagt Susann Widder. In den Workshops lernten die Jugendlichen ihre Stärken und Fähigkeiten besser kennen. „So ein Austausch funktioniert am besten, wenn man etwas Gemeinsames entwickelt.“ Auch Ausflüge wie etwa die Bootstour von Deschka nach Rothenburg dienten dazu, im Team etwas zu bewältigen und zu erleben.

Politik spielt in den Workshops, den Ausflügen und Abendveranstaltungen keine Rolle. „Wenn sich die Jugendlichen außerhalb des Programms darüber austauschen, ist das ihre Sache“, sagt Niels Zieglasch. Die verschiedenen Religionen dagegen waren Thema, aber nicht oft. Die deutschen erzählten den türkischen Schülern von Luther, besuchten mit ihnen die Peterskirche und lauschten der Sonnenorgel. Umgekehrt stellten die türkischen Jugendlichen einen Architekten vor, der viele Moscheen erbaut hat. „Beim Essen wurden die Unterschiede offenbar, wenn es Schweinefleisch gab“, sagt Nils Zieglasch. „Aber den Gebetsraum, den wir extra eingerichtet haben, hat bisher niemand genutzt.“

Bis zum Sonnabend sind die Jugendlichen noch in Görlitz. „Ich hoffe, dass wir alle befreundet bleiben“, sagt Mehmed. Bianca erzählt: „Wir sind schon alle in die Türkei eingeladen worden.“ Zunächst haben die Schüler Gruppen in den sozialen Netzwerken mit je 44 Nutzern gegründet und ihnen deutsch-türkische Namen gegeben.

Die YFU sucht Gastfamilien für Austauschschüler aus 40 Ländern für ein Jahr oder einige Wochen. Kontakt: gastfamilien(at)yfu.de