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Eine Wunde, die niemals heilt

Vor 25 Jahren wurde Monica Seles beim Tennisturnier in Hamburg niedergestochen. Der Täter musste nie ins Gefängnis.

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© dpa

Von Cai-Simon Preuten

Als Günter Parche am 30. April 1993 mit einer Plastiktüte in der Hand die Tennisanlage am Hamburger Rothenbaum betritt, hat er Angst. Der arbeitslose Dreher aus Görsbach in Thüringen sorgt sich jedoch nicht um die Kontrollen am Eingang an der Hallerstraße. Parche fürchtet, auf der roten Asche auszurutschen – und zu scheitern. Also beschließt er, Monica Seles das Messer in den Rücken zu rammen. Ein Angriff von hinten, in sicherem Stand auf der Tribüne, und sein Star ist zurück an der Spitze. Ein Attentat für Steffi Graf – das hatte Parche geplant.

Ein Stich zwischen Wirbelsäule und Schulterblatt und Parches Träume werden Wirklichkeit. Doch zum Glück dringt das Messer nur zwei Zentimeter tief in den Rücken ein, Seles hatte sich gerade weit nach vorne gebeugt. Dennoch fügt Parche Monica Seles eine Wunde zu, die niemals verheilt, und hilft seiner Königin zurück auf den Tennis-Thron.

19 Jahre alt ist Seles und auf dem Weg, alle bisherigen Rekorde zu brechen. Bei den letzten neun Grand Slams triumphierte sie siebenmal. Seles ist längst die dominierende Spielerin, sie hat Steffi Graf abgelöst. Die Serbo-Kroatin ist schon damals der Prototyp der heutigen Spielerinnengeneration: Druckvoll, aggressiv, offensiv und bis zum 30. April 1993 kaum verwundbar.

„Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass irgendjemand Steffi Graf schlagen könnte“, sagt Parche bei seiner Vernehmung: „Für mich ist Steffi die Spitzenfrau. Ihre Augen glänzen wie Diamanten. Sie ist eine absolute Traumfrau.“ Sie sei für ihn „fast wie der liebe Gott“. Das psychiatrische Gutachten diagnostiziert bei Parche „eine irreale Idealisierung mit wahrscheinlich unbewussten sexuellen Elementen und einem Fanatismus, der bis zur Selbstaufopferung ging.“

Die Justizbehörden in Hamburg verurteilen ihn jedoch nicht wegen versuchten Totschlags, sondern wegen gefährlicher Körperverletzung. Parche bekommt Bewährung, Seles‘ Weltbild weitere Risse: „Ich kann nicht verstehen, warum dieser Mensch nicht für seine Tat büßen musste.“

Auch Steffi Graf, die Seles zwei Tage nach dem Attentat im Krankenhaus besucht, äußert ihr „totales Unverständnis“ für das Urteil: „Wie kann ein Mann, der, unter welchen Umständen auch immer, ein Menschenleben gefährdet hat, den Gerichtssaal in Freiheit verlassen?“ Doch Parche bleibt auch nach der Berufungsverhandlung auf freiem Fuß.

„Ich bin niedergestochen worden, auf dem Tennisplatz, vor zehntausend Leuten. Es ist nicht möglich, distanziert darüber zu sprechen“, schreibt Seles in der 2009 erschienenen Biografie: „Es veränderte meine Karriere unwiderruflich und beschädigte meine Seele. Ein Sekundenbruchteil machte aus mir einen anderen Menschen.“ Die äußerliche Wunde heilt schnell, und dennoch dauert es Jahre, ehe die einst zähe Kämpferin wieder auf den Tennisplatz zurückkehrt. Einen weiteren Grand-Slam-Sieg feiert Seles bei den Australian Open 1996, doch ihr Leben ist aus den Fugen geraten. Immer wieder flüchtet sie in Fressattacken und nimmt bis zu 30 Kilogramm zu, bis sie 2008 ihre Laufbahn beendet.

Heute ist Seles zurück im Leben, hat Bücher geschrieben. Verheiratet ist sie mit dem 32 Jahre älteren amerikanischen Milliardär Tom Golisano. Ihre Essstörungen hat sie überwunden. Günter Parche lebt nach mehreren Schlaganfällen zurückgezogen in einem Seniorenheim in Thüringen. (sid)