Von Ulrich Wolf
Kamenz. Gegen Mittag schlägt die Stunde von Richter Eckhard Laschewski. „Es ist eine sinnvolle Lösung gefunden worden, das Verfahren zu beenden“, sagt er. „Es wird eingestellt.“ So geht überraschend schnell zu Ende, was ursprünglich mindestens elf Verhandlungstage dauern sollte: das Verfahren um eine außergewöhnliche Fesselaktion im Mai 2016 vor einem Supermarkt in Arnsdorf im Landkreis Bautzen. Der Fall hatte eine Debatte darüber entfacht, ob es sich um Selbstjustiz oder Zivilcourage handelte.
Vor dem Prozessbeginn in Kamenz
Vier Männer aus Arnsdorf zwischen 29 und 56 Jahren zerrten damals einen psychisch kranken Flüchtling aus dem Irak aus einem Einkaufsmarkt und sollen ihn dann mit Kabelbindern an einen Baum gefesselt haben. Die Staatsanwaltschaft Görlitz klagte sie deshalb wegen Freiheitsberaubung an. Die Verteidigung hingegen sah in dem Vorgehen von vornherein Nothilfe und die Umsetzung des Jedermann-Rechts auf Festnahme eines Tatverdächtigen. Das Interesse an dem Konflikt hat das zuständige Amtsgericht offensichtlich unterschätzt. Bereits um halb neun stehen rund 100 Demonstranten und zahlreiche Medienvertreter am Eingang. Anhänger von Pegida und der neurechten Ein-Prozent-Bewegung halten Plakate hoch mit Aufschriften wie „Zivilcourage ist kein Verbrechen“ oder „Schauprozess“ oder „Solidarität mit den Arnsdorfer Helden“. Dazwischen mengen sich Mitglieder des lokalen Motorradclubs Road Eagle, die Arnsdorfer Bürgermeisterin, Gemeinderäte, Angehörige der Angeklagten. Als die sich mit ihren Anwälten durch die Menge schlängeln, brandet Applaus auf.
Aufgeladene Atmosphäre
Drinnen steht der höchstens 100 Quadratmeter große Verhandlungsraum zur Hälfte voll mit dem Mobiliar für die vier Angeklagten und ihre Verteidiger, für gleich zwei Staatsanwälte sowie den Einzelrichter und seine Protokollantin. Gerade einmal 40 Zuschauerplätze sind vorgesehen, 16 davon für Presseleute.
Drei Minuten benötigt Staatsanwalt Jens-Hagen Josinger für das Verlesen der Anklage. Sie geht über den Inhalt einer Pressemitteilung zu dem Fall kaum hinaus. Für den Dresdner Rechtsanwalt Maximilian Krah, Verteidiger des Arnsdorfer CDU-Gemeinderats Detlef Oelsner, ist das eine Steilvorlage. Er frage sich, warum nicht wegen Körperverletzung geklagt worden sei. Schließlich zeige ein Internetvideo aus dem Supermarkt, dass auch sein Mandant den Asylbewerber recht rabiat überwältigt. „Ich kann Ihnen sagen, warum Sie das nicht gemacht haben“, sagt Krah in Richtung Anklage. „Weil es Nothilfe war.“
Krahs Anwaltskollege Frank Hannig wirft der Staatsanwaltschaft vor, „schludrig gearbeitet“ zu haben. Der Jurist betont, es gebe keine rechtsradikale Bürgerwehr. Als nun wieder Hannig die Einstellung des Verfahrens fordert, antwortet die Staatsanwaltschaft leicht erzürnt. „Sie haben doch das Medieninteresse selbst geschaffen über die sozialen Netzwerke und angekündigt, notfalls bis zum Bundesverfassungsgericht gehen zu wollen.“
Richter Laschewski hat Mühe, die aufgeladene Atmosphäre zu beruhigen. Es gibt keine Mikrofonanlage im Raum. Das bereits im Internet zehntausendfach gesehene Video aus dem Supermarkt lässt er zunächst auf einem Minilaptop vorspielen. Der Ton ist unverständlich, die Bilder sind für das Publikum nicht einsehbar. Den Ausweg aus dem Dilemma schafft der mitgebrachte private Flachfernseher des Angeklagten Oelsners. Sein Anwalt Hannig sagt, das sei in weiser Voraussicht geschehen. Schmunzelnd hilft Oelsner beim Aufbau der Technik. Der Richter weicht aus Platzgründen auf den Zeugenstuhl aus, um das Video zu sehen – und führt dann ein rund 40-minütiges Rechtsgespräch mit Verteidigern und Anklägern.
Das Ergebnis ist bekannt: Einstellung. Ein Opfer, das nicht mehr aussagen könne. Eine Akte, aus der nicht hervorgehe, wer gefesselt habe und keinerlei Hinweise auf eine Bürgerwehr biete. Ein kranker und aggressiver Asylbewerber, dessen Verhalten dem Hausfriedensbruch sehr nahekomme. Unbestrafte Angeklagte, die zudem sofort die Polizei gerufen hätten. All das spreche für eine höchstens sehr geringe Schuld, begründet der Richter.
„Der Fall hätte vermutlich gar kein Aufsehen erregt, wenn das Supermarktvideo nicht ins Netz gestellt worden wäre“, sagt der Richter. So sei aber eine emotionale Lawine entstanden, „die zum Schluss dummerweise bei mir, bei Gericht, gelandet ist“. Er wolle helfe, die Lawine einzudämmen und halte die Einstellung für eine sehr kluge, vernünftige und angemessene Entscheidung. „Vielleicht kann das auch den Frieden in Arnsdorf wieder herstellen.“