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Ein Unfall, der nie aufgeklärt wurde

Günter Kern aus Kamenz erinnert sich an Weihnachten 1988. Damals war sein Sohn verunglückt. Das hinterlässt bis heute Fragen.

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© Uwe Soeder

Von Günter Kern

Weihnachten ist ein wunderschönes Fest. Vor allem für die Familie. Meine Frau und ich haben drei Söhne und eine Tochter. Da ging es auch früher oft sehr lebhaft zu. 1988 war es nicht ganz so lebhaft gewesen. Die Vorfreude war getrübt, aber zum Glück konnten wir am 22. Dezember unseren damals 17-jährigen Sohn Thomas nach fast fünf Monaten endlich aus dem Krankenhaus abholen. Die Zeit davor war überschattet und wirkt mit ihren Fragen auch noch bis in die Gegenwart nach.

Thomas war am 30. Juli 1988 zur Party im Jugendklub in Straßgräbchen kurz vor Bernsdorf. Gegen 2 Uhr nachts bekam ich einen Anruf vom Krankenhaus in Kamenz. „Bei uns liegt ihr Sohn auf der Intensivstation. Wir wissen nicht, ob er die Nacht überlebt, aber sie brauchen nicht ins Krankenhaus zu kommen, er ist sowieso nicht ansprechbar.“  Als wir im Krankenhaus eintrafen, lag Thomas vor einem Vorhang, hinter dem ein sterbender Mann lag. Thomas war bewusstlos und völlig deformiert im Gesicht und am Körper – ein furchtbarer Anblick. Auch die baulichen und hygienischen Zustände im Kamenzer Krankenhaus waren damals unzumutbar. Bis zu sechs Personen lagen in einem Krankenzimmer. Als Thomas zu Weihnachten wieder zu Hause war, zog sich der Genesungsprozess noch monatelang hin. Eine Entzündung im linken Unterschenkel beeinträchtigt ihn, denn der offene Bruch am Bein hatte seine Spuren hinterlassen.

Taxi kam mit hohem Tempo

Was war geschehen? Die Verkehrspolizei in Kamenz sagte, Thomas sei im angetrunkenen Zustand in Straßgräbchen in ein Taxi gelaufen. Folgendes Bild ergab sich aus den glaubwürdigen Zeugenaussagen der Freunde von Thomas: Die Jugendlichen hatten sich am Straßenrand in der Dorfmitte aufgestellt, um ein Taxi abzuwinken, das sie erwarteten. Das Taxi kam mit hohem Tempo, nach damaliger Aussage einer Mitfahrerin mit etwa 70 bis 80 km/h in die Ortslage gefahren. Thomas stand als letzter in der Reihe und bekam nicht rechtzeitig mit, dass die Freunde dem heranrasenden Auto reaktionsschnell mit einem Rückwärtsschritt ausgewichen waren. Thomas wurde vom Taxi erfasst und 15 Meter weit auf die Kreuzung geschleudert. Dort blieb er schwerstverletzt liegen. Das Taxi hielt kurz, der Fahrer beschimpfte die Jugendlichen, was steht ihr auf der Straße herum, und fuhr mit seinem lädierten Auto – die Frontscheibe war gesplittert, ein Scheinwerfer kaputt – mit seinen zwei geschockten weiblichen Taxigästen weiter. Die Freunde kümmerten sich um Thomas, eine Anwohnerin rief Polizei und Rettungsdienst um Hilfe. Kurz nach dem Eintreffen des Rettungsdienstes kam das Polizeieinsatzfahrzeug aus Kamenz – mit dem Taxiunternehmer, dessen Sohn gefahren war und der zurück an den Ort des Geschehens kam, nachdem er seine Gäste in Bernsdorf abgesetzt hatte. Er hat mit dem Vater im Polizeifahrzeug gesprochen, so die Zeugen, und ist dann mit dem demolierten Taxi nach Kamenz gefahren. Schon am nächsten Tag ging das Fahrzeug in die Reparatur.

Als Ergebnis der „Unfalluntersuchung“ wurde mir mitgeteilt, Thomas sei unter Alkoholeinwirkung ins Taxi gerannt. Sein Alkoholwert soll bei 0.5 Promille gelegen haben. Kaum war er aus dem Koma erwacht, wurde er, obwohl er noch erheblich im Erinnerungsvermögen beeinträchtigt war, zu einer Unterschrift und damit zum Schuldeingeständnis aufgefordert. Thomas war noch nicht volljährig, als erziehungsberechtigter Vater hätte ich mit einbezogen werden müssen. Der Taxiunternehmer aus Kamenz und sein Sohn haben sich während der monatelangen Genesung nur einmal gemeldet, und das war am Tag nach dem Unfall.

Rechtsanwalt eingeschaltet

Nachdem ich von der Taxifahrer-Flucht und der zögerlichen Ermittlung der Polizei gehört hatte, wollte ich Kenntnis über die Unfallaufklärung durch die Verkehrspolizei Kamenz. Ich sammelte fünf handschriftliche Zeugenaussagen der Freunde ein und übergab sie meinem Rechtsanwalt, der mein Nachbar war. Nichts geschah. Danach schrieb ich an den zuständigen Innenminister der DDR mit der Bitte um Aufklärung dieser unvorstellbaren Unfallaufnahme. Schließlich war diese auch in der DDR gesetzlich geregelt. Ich bekam die Antwort, mich beim Polizeichef in Kamenz zu melden. In einer Gesprächsrunde beim Polizeichef – mein Rechtsanwalt konnte und wollte nicht dabei sein – hielt man mir vor, die Arbeit der Volkspolizei in Verruf zu bringen: „Es gibt keinen Anlass, Herr Kern die Volkspolizei in Kamenz zu kritisieren!“ Es war eine unmissverständliche Drohung an mich. Meine Fragen zum Unfallgeschehen wurden in dieser Zusammenkunft nicht erörtert oder gar beantwortet. Meinen Rechtsanwalt bat ich, mir doch bitte die fünf schriftlichen Zeugenaussagen der Freunde von Thomas wieder zurückzugeben. Seine Antwort, sie sind nicht mehr auffindbar. Er habe sie der Volkspolizei übergeben. Später erfuhr ich, dass mein Rechtsanwalt selbst bei der Stasi als „IM Hesse“ der Kreisdienststelle Kamenz geführt worden war. Möglicherweise waren er oder andere bei der Vertuschung eines beinahe tödlich ausgegangenen Verkehrsunfalls beteiligt? Wieso wurde nie ermittelt, wie schnell das Taxi unterwegs war? Gab es keine Bremsspuren, die zu vermessen waren? Waren nicht auch freiwillige Helfer der Verkehrspolizei vor Ort, die zur Aufklärung hätten beitragen können? War die offensichtliche Flucht vom Unfallort ein Kavaliersdelikt? Wer hat schützend die Hände über den Kraftfahrer gehalten? Und warum? Nach der Wende habe ich als amtierender Landrat 1992/93 mit der Bitte um Amtshilfe und Aufklärung die Unterlagen des Verkehrsunfalles von 1988 bei der Polizei in Kamenz angefordert. Die ernüchternde Antwort: „Herr Kern, es gibt keine Unterlagen zum Unfall mit ihrem Sohn Thomas bei der Polizei in Kamenz.“ Das kann man heute getrost auch als eine Episode zum Thema „Rechtsstaat oder Unrechtsstaat DDR“ ansehen.

Jetzt als Künstler erfolgreich

Mein Sohn leidet übrigens noch immer an den Folgen des Unfalls. Er konnte durch den langen, verletzungsbedingten Ausfall sein Abitur nicht ablegen und musste sich beruflich völlig neu orientieren. Er ist seinen Weg gegangen und mittlerweile auch als ambitionierter Künstler erfolgreich. Und in ein paar Tagen wird sich die Familie wieder unterm Christbaum versammeln.

Unser Autor Günter Kern (73) schreibt derzeit an seinen Erinnerungen zum DDR-Alltag und zur friedlichen Revolution vor 25 Jahren. Die SZ druckt in einer Reihe Auszüge daraus ab. Kern hat seit 1990 wichtige Funktionen in der neugegründeten SPD in Kamenz, im Arbeitersamariterbund und als Dezernent der Kreisverwaltung inne gehabt.