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Ein todsicheres Geschäft

Jörg Schaldach ist seit 25 Jahren Chef des Krematoriums in Meißen. Seine Öfen arbeiten so energiesparend wie nirgendwo sonst im Land. Ein Besuch in der Vorhölle.

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© Ronald Bonß

Von Ines Mallek-Klein

Meißen. Das Besprechungszimmer ist kaum größer als der Tisch, der darin steht. Auf ihm liegt eine bordeauxfarbene Sargdecke mit farblich abgestimmtem Kopfkissen. Jörg Schaldach räumt das mit Holzwolle gefüllte Polyester raschelnd beiseite. „Wir machen hier manchmal Physiotherapie. Auch wenn vieles automatisiert ist, die Rücken unserer Mitarbeiter werden doch strapaziert“, sagt der Chef des Krematoriums Meißen, Jörg Schaldach.

Jede Aschekapsel wird mit einem nummerierten Deckel versehen. Anhand der Ziffer lässt sich die Urne einem Toten zuordnen.
Jede Aschekapsel wird mit einem nummerierten Deckel versehen. Anhand der Ziffer lässt sich die Urne einem Toten zuordnen. © Ronald Bonß

Hier, auf dem Burgberg, steht der Legende nach die Wiege Sachsens. Und für über 340 000 Menschen stand hier auch ihre Bahre. So viele Tote wurden seit der Eröffnung 1931 im Meißner Krematorium verbrannt. Viele kamen aus Sachsen. Aber auch Bestatter aus Bayern, Baden-Württemberg oder Berlin bringen ihre Toten mittlerweile zum Verbrennen hierher. „Weil wir so günstig sind“, sagt Schaldach. Reichlich 200 Euro – inklusive Mehrwertsteuer, zweiter Leichenschau durch einen Pathologen und Standardurne. Die Konkurrenz verlangt bis zu viermal so viel.

Der Preis ist den Toten egal. Aber den Lebenden nicht. Das zeigt der Gang durch die Leichenhalle. 65 Särge stehen hier, in Dreierreihen bei frischen vier Grad Celsius. Die Kühlung surrt auf Hochtouren. Der gerade gewischte Fußboden soll schnell trocknen. Über allem hängt der schwer zu ertragende, leicht süßliche Geruch des Todes. Jörg Schaldach hat sich daran längst gewöhnt. Er schaut auf die hölzernen Särge. Viele sind aus billigem Kiefernholz. Modell Obstkiste. Selbst der Deckel ist nur ein einfaches Brett.

Schockunterricht, Boxsäcke und Prominente

Regelmäßig besuchen Schulklassen das Krematorium in Meißen. Der Tod gehört zum Leben, das könne man gar nicht früh genug lernen, sagt Jörg Schaldach. Er erzählt dann aber auch von der 27 Jahre alten Leipzigerin, die nach jahrelangem Crystal Meth-Konsum mit dem Körper einer alten Frau nach Meißen kam. Oder von dem 24-Jährigen, der sich im Alkoholrausch tot gefahren hatte. Die Geschichten schockieren, sie polarisieren – aber genau das sollen sie tun. „Es ist mein Beitrag, den ich zur Alkohol- und Drogenprävention leisten kann“, sagt Jörg Schaldach.

Der Job des Bestatters ist hart. Er produziert Bilder, die man nie vergisst. Bei der Verarbeitung hilft unser entspanntes Betriebsklima, ist Jörg Schaldach überzeugt. Von psychologischer Betreuung und Supervision hält er nichts. Stattdessen hat er neben dem Heimbürgenraum einen Boxsack aufgehängt. Hier darf geschlagen und geflucht werden.

Die Abwärme aus dem Krematorium wird genutzt, um die Büros und einige angrenzende Gebäude zu heizen. In den 1990er-Jahren wurden zudem auf den Friedhofswegen von ABM-Kräften Rohre verlegt. Das heiße Wasser, das hier durchgeleitet wird, hält die Pfade auch im Winter schnee- und eisfrei. Theoretisch würde der Wärmeüberschuss ausreichen, um ein Hallenbad zu beheizen.

Zu den Prominenten, die in Meißen verbrannt wurden, zählen Erich Mielke und Charlotte, genannt Lotte, Ulbricht.

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Unsere Bestattungskultur verfällt, sagt Jörg Schaldach. Wer tot ist, muss weg, und das schnell. Vor allem die Bestatter aus den großen Städten schicken ihm diese schmucklosen Kisten. Die Zeiten, in denen man zum 50. Geburtstag einen Sarg geschenkt bekam, seien längst vorbei. „So einen, wie den hier“, sagt Jörg Schaldach und streicht fast schon liebevoll über das mit Rosenblüten verzierte Eichenholz. Ein Sarg für eine Erdbestattung am Nachmittag in Weinböhla. Bevor er für seine allerletzte Fahrt in den Leichenwagen geschoben wird, verreibt Praktikantin Ellen Hornemann die Möbelpolitur auf dem Holz. Nur noch einer von zehn Toten wird in der Erde bestattet. Immer öfter verzichten Familie und Freunde sogar auf die Trauerfeier.

Zu DDR-Zeiten wurden jedes Jahr in der Meißner Feierhalle 750 Feiern abgehalten, heute sind es nur noch knapp 250. Der Rückgang begann 2004. Damals haben die Krankenkassen die Auszahlung des Sterbegeldes ganz eingestellt. „Und dann darf man nicht vergessen, dass die, die heute ihre Eltern zu Grabe tragen, die Ersten sind, die selbst mit Rentenkürzungen leben müssen. Da zählt manchmal jeder Euro“, sagt Jörg Schaldach.

Er selbst ist Verfahrenstechniker. Mit Öfen kennt er sich aus. Der 54-Jährige hat in dem zum Kombinat Lausitzer Glas gehörenden VEB Beleuchtungsglaswerk Dresden gearbeitet. Er war in Bischofswerda für die Produktionsleitung zuständig. Doch mit der Wende kam dort das Aus.

Schaldach, gebürtiger Coswiger, las eine Ausschreibung. Für das Krematorium Meißen wurde ein Geschäftsführer gesucht. Das war 1992. Er bekam den Zuschlag. Und er tat, was er schon im Glaswerk gern gemacht hatte. Er optimierte. Er baute die aus den Jahren 1931 und 1937 stammenden Öfen um, verfeinerte die Abluft- und Filteranlagen wieder und wieder. Es geht ihm nicht nur darum, die gesetzlich vorgeschriebenen Emissionsgrenzwerte einzuhalten. Das hat man längst erreicht. Er will Abläufe optimieren und den Energieverbrauch senken. Das ist gelungen. „Auch, weil wir genau überlegen, in welcher Reihenfolge wir die Leichen einäschern“, sagt Jörg Schaldach. Jeder Mensch brennt anders. Ältere besser als jüngere, weil ihr Körperfettanteil oft höher ist. Frauen besser als Männer. Dickere besser als Dünnere. „Deshalb bin ich auch kein Freund von Diäten“, sagt Jörg Schaldach beim Gang zu den beiden Öfen.

Es sind Sarg Nummer 21 und Nummer 22, die an diesem Tag ins Feuer geschoben werden. Ein Knopfdruck, die Ofenklappe öffnet sich, ein zweiter Knopfdruck, der Sarg verschwindet in den Flammen, die wie eine große Welle über ihm zusammenschlagen, ihn zu verschlingen scheinen. Die Sargdeckel sind wenige Millimeter aufgeschoben, damit die Flammen leichteres Spiel haben. Knopfdruck drei, die Ofentür schließt sich wieder.

Die Flammen lodern, und die rote Temperaturanzeige klettert binnen Minuten auf bis zu 1300 Grad Celsius. Wer den Mut hat, kann durch den Sichtschacht an der Rückseite des Ofens den Verbrennungsprozess beobachten. Erst wird der Sarg, dann der Mensch Raub der Flammen, und das, obwohl wir ein Leben lang versuchen, das Feuer im Zaum zu halten. Am Ende bezwingt es uns doch.

Nach 30 Minuten ist die Einäscherung vorbei. Der letzte Weg des Menschen, oder besser, dessen, was von ihm übrig ist, führt immer nach unten. Durch den Gitterrost in einen länglichen Metallkasten. Asche, in der sich mal künstliche Hüftgelenke, Herzklappen oder Zahnimplantate finden. Jörg Schaldach sammelt die Ersatzteile heraus und findet manchmal auch Seltsames, wie eine chirurgische Schere, die wohl nach einer Operation im Patienten zurückgeblieben ist. Fünf seiner ehemaligen Mitschüler seien Mediziner geworden, erzählt er bei der Gelegenheit. Aber einer müsse ja am Ende aufräumen, und das sei er.

Bevor die Asche in die Kapsel gefüllt werden kann, wird sie zermahlen. Die letzten, vom Verbrennen bereits porös gewordenen Knochen krachen in der Mühle. Dann rieselt der feine, graue Staub in den himmelblauen Behälter. Draußen fährt indes ein neuer Leichenwagen vor. Er kommt aus Freiberg und bringt zwei Tote. Es wird langsam eng in der Anlieferungshalle. „Wir sind an der Kapazitätsgrenze, wir müssen anbauen“, sagt Jörg Schaldach. Das Krematorium wird erweitert, die Leichenhalle vergrößert und ein dritter Ofen gebaut. An einem gelben Sperrholzmodell zeigt Jörg Schaldach die vier Ausbaustufen, die geplant sind, eigentlich schon seit Ende der 1990er-Jahre.

Das Krematorium, einst vom Meißner Feuerbestattungsverein geplant und mit Hypotheken, Lotterien, Anteilsscheinen in Roggenwährung sowie Vereinsgeldern finanziert, ist heute GmbH. Einziger Anteilseigner ist die Stadt Meißen. Die, da ist sich Jörg Schaldach sicher, möchte das auch bleiben.

Das Geschäft mit dem Tod boomt. „Wir reinvestieren, jedes Jahr, Stück für Stück, ohne Kredite“, sagt Jörg Schaldach. Bestattungen seien kommunale Daseinsvorsorge. Da gehe es nicht primär um Gewinne. Die vielen privaten Krematorien, die in den vergangenen Jahren eröffnet haben, sieht Schaldach gelassen und ist überzeugt, dass sich der Bessere am Markt behaupten wird. Das ist Wettbewerb wie in anderen Branchen auch.

Schaldach trägt an diesem Herbsttag einen schwarzen Pullover. Darunter blitzt ein weißes Hemd hervor. So wie immer. Das schwarze Jackett hängt griffbereit auf dem Bügel im Büro. Der Tod meldet sich nicht an. Und so weiß auch Jörg Schaldach morgens nicht genau, was ihn und seine Bestatterkollegen erwarten wird. Er will vorbereitet sein. Und sein Krematorium ist es auch. 24 Stunden Rufbereitschaft. Sieben Tage die Woche ist hier jemand zu erreichen. Besonders eilige Fälle werden innerhalb von 48 Stunden bearbeitet. Und im Januar oder Februar, wenn besonders viele Menschen sterben, wird auch mal im Vierschichtbetrieb verbrannt.

Die Bestatter haben eigene Schließfächer und können dort die Aschekapseln jederzeit abholen. Eine dieser Kapseln trägt jetzt die Nummer 345 514. Es ist der Tote aus Sarg 22. Durchschnittlich 3,5 Kilogramm Asche sind alles, was bleibt von einem Menschenleben. Mehr nicht. Das relativiere vieles, vielleicht sogar alles, sagt Schaldach.

Diesen und weitere Artikel über die sächsische Wirtschaft und ihre Macher finden Sie in der aktuellen Ausgabe von „Wirtschaft in Sachsen“ – dem Entscheidermagazin der Sächsischen Zeitung, erhältlich am Kiosk und an Tankstellen. Gern können Sie sich unter www.wirtschaft-in-sachsen.de für unseren wöchentlichen Newsletter anmelden.