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Ein sinnloses Kommando

Im April 1945 musste Joachim Hennig zwei Panzersperren verteidigen. Was das mit Wernher von Braun zu tun hatte, erfuhr er erst im hohen Alter.

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Von Jan Lange

Für Joachim Hennig ist der kleine Kalender ein großer Schatz, von dem er sich nie trennen wird. Dabei sieht das Büchlein nicht mal schön aus. Aber es enthält wichtige Notizen aus den letzten Kriegsmonaten und der Gefangenschaft. Einige Seiten fehlen bereits – aber nicht, weil der Kalender so alt ist. Hennig hatte sie damals herausgerissen. Die jungen Soldaten sollten, so der Befehl, ihre Soldbücher wegwerfen, wenn sie in Gefangenschaft geraten. Private Notizen durften für den Feind nicht erkennbar sein. Auch wenn die Seiten mit den Einträgen zu den letzten April-Tagen fehlen, an jene dramatischen Stunden kann sich Hennig noch gut erinnern.

Als Gebirgsjäger war er zu dieser Zeit in Oberbayern stationiert. Ende April sollten die jungen Kerle, alle erst 17 Jahre alt, zwei Panzersperren in Oberammergau verteidigen. Für Hennig war es die zweite Begegnung mit dem Ort. Vier Jahre zuvor hatte er sich hier mit anderen sächsischen Sportlern auf die Skiwettkämpfe in Garmisch-Partenkirchen vorbereitet. Am 27. April 1945 stand er wieder in der Freikorpsstraße, dort wo er als 14-Jähriger eine Woche gewohnt hatte. Er ließ sich eine Stunde freigeben, um seine Gasteltern erneut zu besuchen. Was ihn und die anderen jungen Soldaten Stunden später erwartete, konnte er zu dem Zeitpunkt noch nicht ahnen. „Wir warteten am Bahnhof auf ein Signal der ersten Gruppe, die die Panzersperre vor Oberammergau verteidigte“, erinnert sich der 87-Jährige. Sie sollten mit grüner Leuchtmunition Bescheid geben, wenn sie die Sperre zumachen. Die Soldaten am Bahnhof sollten das Signal dann an die Bewacher der zweiten Panzersperre, die sich am anderen Ende von Oberammergau befand, weitergeben. „Nach zehn Uhr am nächsten Tag hatten wir noch kein Signal bekommen“, sagt Hennig. Wenig später rollten die ersten amerikanischen Panzer im Ort ein. Vor Schreck schoss Hennig die Leuchtpistole, die er gerade in der Hand hielt, ab. So wurden die Amerikaner auf die Gebirgsjäger aufmerksam. „Wir sind zu unserer Einheit gerannt, die sich noch an der zweiten Panzersperre befand“, sagt Hennig. Wenig später begann der Beschuss durch die Amerikaner, der bis gegen 15 Uhr andauerte. Es sei das erste und zugleich letzte harte Erlebnis während des Krieges für ihn gewesen, so Hennig. Die jungen Gebirgsjäger flüchteten an der Kapellenwand bis hoch in die Berge – immer verfolgt vom Artilleriebeschuss der amerikanischen Panzer. „Als es bereits dunkelte, waren wir oben angekommen“, blickt der 87-Jährige zurück. Die Kompanieführer haben dann Seile aus ihren Rucksäcken geholt, riefen auf bayrisch „pfiat eich“ und waren weg. Den Jugendlichen ließen sie zumindest ein Seil da, mit dem sie im Finstern wieder absteigen konnten. In den Bergen fanden sie eine Hütte, wo sie die Nacht verbringen konnten. Am nächsten Tag machten sie sich auf den Weg nach Bad Tölz. Die Vorgesetzten hatten ihnen eingetrichtert, dorthin zu kommen, weil in Bad Tölz angeblich eine neue Truppe aufgebaut werde. Hennig und seine Kameraden schafften es nur bis Murnau, wo sie von den Amerikaner gefangen genommen wurden. Zum Glück dauerte die Gefangenschaft nicht so lange. Seinen 18. Geburtstag im Oktober 1945 konnte der gebürtige Jonsdorfer, der seit 1952 in Zittau lebt, wieder zu Hause feiern.

Joachim Hennig hat sich danach immer wieder die Frage gestellt, warum die Jugendlichen die Panzersperren verteidigen sollten, wo doch SS und Militär inzwischen aus Oberammergau abgezogen waren. Denn bei dem sinnlosen Unterfangen verloren 14 junge Soldaten ihr Leben. Sie waren die ersten Toten auf dem neuen Oberammergauer Friedhof unterm Kofel. Die Antwort, warum sie verheizt wurden, hat Hennig erst vor einigen Jahren durch einen Zeitungsartikel bekommen. In den letzten Tagen vor dem Einmarsch der Amerikaner hielt sich der gesamte Wissenschaftlerstab der V-2-Produktion aus Peenemünde in Oberammergau auf, unter ihnen auch Wernher von Braun. Die blutjungen Gebirgsjäger sollten den Einmarsch der Amerikaner nicht aufhalten, sondern nur verzögern, damit der Stab in Ruhe tagen und wichtiges Material sicherstellen konnte. Schon eine Woche später hatte sich Wernher von Braun nach Amerika abgesetzt. Hennig ist sauer darüber, dass die Oberen ganz schnell die Seiten wechselten, während die Jugendlichen noch bis zuletzt die Stellung halten sollten. Die Erlebnisse in Oberammergau haben in ihm die Erkenntnis reifen lassen, alles zu tun, „dass es nie mehr Krieg gibt“.