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Ein Schutzengel für Frau F.

Völlig unbemerkt verschwindet eine demente Bewohnerin aus einem Bautzener Pflegeheim. Wie kann das passieren?

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© Uwe Soeder

Von Jana Ulbrich

Da hat Frau F. ja noch mal Glück gehabt. Oder besser: einen Schutzengel. Denn wäre Silke Rogalla an diesem Morgen nicht so aufmerksam gewesen – wer weiß, was dann passiert wäre. Es ist eiskalt an jenem 11. Mai frühmorgens kurz vor halb acht. Silke Rogalla ist gerade auf dem Weg zur Arbeit, als sie in der Bautzener Spreegasse die alte Frau auf der Straße sieht. „Ich war schon an ihr vorbei, als mir plötzlich klar war: Da stimmt doch etwas nicht“, erzählt sie. „Die alte Dame hatte bei der Kälte überhaupt keine Jacke an, nur einen dünnen Pullover. Das hat mich stutzig gemacht“.

Aufmerksame Passantin: Silke Rogalla hat die alte Frau ins Bautzener Pflegeheim an der Spreegasse zurückgebracht. Vom Personal, sagt sie, habe sie an diesem Morgen niemanden gefunden. Die Tür war offen, die Rezeption nicht besetzt.
Aufmerksame Passantin: Silke Rogalla hat die alte Frau ins Bautzener Pflegeheim an der Spreegasse zurückgebracht. Vom Personal, sagt sie, habe sie an diesem Morgen niemanden gefunden. Die Tür war offen, die Rezeption nicht besetzt. © Uwe Soeder

Silke Rogalla kehrt um und spricht die Frau an. „Wo wollen Sie denn hin?“, fragt sie. „Nach Hause“, sagt die alte Dame. „Ist das weit?“, fragt Silke Rogalla. Da wirkt die Frau auf einmal sehr verwirrt und sagt, dass sie das gar nicht wisse. „Wo bin ich denn?“, fragt sie. Silke Rogalla weiß, dass in der Nähe ein neues Pflegeheim eröffnet worden ist. Erst vor einem halben Jahr sind die ersten Bewohner eingezogen. Sie vermutet, dass die alte Frau von dort hergekommen sein könnte. Sie nimmt sie am Arm und sagt ihr, dass sie sie jetzt nach Hause bringen wird.

„Die Eingangstür zum Pflegeheim war offen“, erzählt Silke Rogalla. Die Rezeption war nicht besetzt, auch die Bürotüren vom Heimleiter und der Pflegedienstleiterin waren verschlossen.“ Sie habe eine ganze Weile gewartet und gerufen, aber keine Antwort bekommen, schildert sie weiter. Dann sei sie die Treppe hinauf in den ersten Wohnbereich gegangen. Auch dort habe sie kein Personal gesehen. Nur eine Bewohnerin, die im Aufenthaltsbereich saß. Die Bewohnerin bestätigt ihr schließlich, dass die alte Dame auch hier wohnt. Weil schon fast eine halbe Stunde Zeit vergangen ist und Silke Rogalla zur Arbeit muss, bittet sie die Bewohnerin, auf die alte Frau aufzupassen und dem Personal Bescheid zu sagen, das ja irgendwo sein müsse.

Das kann immer wieder passieren

Silke Rogalla verlässt das Haus mit einem unguten Gefühl. „Es kann doch nicht sein, dass jemand einfach so unbemerkt aus dem Heim verschwinden kann“, sagt sie. Der Vorfall lässt sie nicht los. Sie will das klären und fährt ein paar Tage später noch einmal zum Pflegeheim an der Bautzener Spreegasse. An diesem Nachmittag ist die Rezeption besetzt. Pflegedienstleiterin Ines Schmidt hat sofort Zeit. Als Silke Rogalla ihre Geschichte schildert, ist die Pflegedienstleiterin sehr froh und erleichtert, vor allem aber ist sie Silke Rogalla sehr dankbar. „Es müsste viel mehr so aufmerksame Menschen geben wie Sie“, sagt Ines Schmidt. Denn dass Heimbewohner unbemerkt das Haus verlassen können, kann immer wieder passieren – und das nicht nur an der Spreegasse. Das Problem ist ein rechtliches: „Die Türen im Pflegeheim müssen immer offen stehen“, erklärt Ines Schmidt. So verlange es das Gesetz. Man dürfe die Bewohner im Haus nicht einsperren. „Jeder hat das Recht, dahin zu gehen, wohin er will. Alles andere wäre Freiheitsberaubung.“

Es ist eine grundsätzliche Vorschrift, an die sich die Pflegeheime halten müssen – auch mit dem Risiko, dass das gerade für demente Bewohner zugleich eine stetige, potenzielle Gefahr ist. Auch bei der sächsischen Heimaufsicht sieht man das durchaus als Problem. „Wir wissen, dass das immer auch eine Gratwanderung ist und ein Spagat zwischen der gewünschten Freiheit und der nötigen Sicherheit“, erklärt Heimaufsichts-Mitarbeiter Christian Böttger.

So steht die Eingangstür im Heim an der Spreegasse täglich von 6 bis 18 Uhr offen. Die Rezeption ist nach Auskunft der Pflegedienstleiterin aber erst ab 8 Uhr besetzt. Von innen muss die Tür zudem jederzeit geöffnet werden können – genauso wie alle anderen Fluchttüren, die es zusätzlich gibt. Das wiederum verlangt das Brandschutzgesetz. Zwischen 18 und 6 Uhr morgens sind alle Türen alarmgesichert. Würde ein Heimbewohner das Haus in dieser Zeit verlassen, leuchtet ein rotes Signallicht auf, und die Telefone, die die Mitarbeiter immer bei sich tragen, klingeln.

Pflegekräfte haben in den Zimmern zu tun

Aber früh kurz vor halb acht hätte wohl nur ein Mitarbeiter Frau F. vom Weglaufen abhalten können. Doch um diese Zeit haben die Pflegekräfte in der Regel vollauf in den Zimmern der Bewohner mit der Morgentoilette zu tun. Das, so erklärt die Pflegedienstleiterin, sei wohl auch der Grund gewesen, warum Silke Rogalla an dem Morgen keinen Mitarbeiter im Aufenthaltsbereich angetroffen hat. Zwar leuchtet über der Tür des Zimmers, in dem der Mitarbeiter gerade zu tun hat, ein grünes Licht, aber das konnte Silke Rogalla nicht wissen.

Sechs Pflegekräfte arbeiten morgens in der Frühschicht auf den vier Etagen mit insgesamt 49 Bewohnern. Später kommen dann noch Helfer und Alltagsbetreuer hinzu, sodass in jedem Bereich immer zwei bis drei Mitarbeiter präsent sind. Eine Personalsituation, sagt die Pflegedienstleiterin, die noch über dem vorgegebenen Schlüssel liegt. Und dennoch könnten die Mitarbeiter ihre Augen eben nicht immer und überall haben. „Ein Restrisiko bleibt leider immer“, sagt Ines Schmidt – auch wenn sie sich das anders wünschen würde. „Wir überlegen ständig, was wir noch verändern können, um das Risiko weiter zu verringern“, sagt sie. Konkret angedacht sind jetzt beispielsweise Klingeln an den Türen zu den einzelnen Wohnbereichen.

Oben im ersten Wohnbereich gibt es heute Erdbeerkuchen. Wer noch kann und Lust hat, macht mit. Frau F. schaut lieber zu. Alle sind froh, dass die 94-Jährige wieder wohlbehalten im Kreis der Bewohner sitzt. Es hätte auch ganz anders kommen können. Aber zum Glück hatte Frau F. an jenem Morgen ja einen Schutzengel.