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Ein Problem, über das keiner gerne spricht

Der Tod der elfjährigen Chantal aus Hamburg rüttelte auf. Doch das Schicksal, in einer Suchtfamilie aufzuwachsen, ist kein Einzelfall. Aber viele schweigen aus Scham.

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Von Andrea Barthélémy

Berlin. Seit Wochen und Monaten schon lebt dieser Elch mitten im Wohnzimmer. Er stört, er macht Angst, er sorgt für Chaos und Dreck, und buchstäblich alles muss um ihn herum arrangiert werden. Aber niemand in der Familie erwähnt diesen Elch, gerade so, als ob er gar nicht da sei. Und niemand außerhalb darf von ihm wissen - diese geheime Regel gilt in den meisten Familien mit Suchtproblem. „Alle sehen und fühlen, dass da ein Riesenproblem im Raum steht, aber keiner spricht darüber“, beschreibt Henning Mielke das Bild vom Elch im Wohnzimmer. Mit dem Verein Nacoa Deutschland will er die Probleme von Kindern aus Suchtfamilien sichtbar machen. „Ein Kind fühlt sich oft völlig allein und glaubt, dass niemand sonst so etwas erlebt.“

Doch das stimmt bei weitem nicht: Bald jedes sechste Kind oder Jugendlicher lebt in einer Familie mit Suchtproblemen, schätzt Professor Michael Klein (Deutsches Institut für Sucht- und Präventionsforschung/Kath. Hochschule NRW). Und das Risiko, selbst eine Sucht zu entwickeln, ist für diesen Nachwuchs deutlich erhöht.

„Schuldgefühle sind das Einfallstor für eine eigene Sucht"

„Anhand vieler US-Studien wissen wir, dass etwa ein Drittel der Betroffenen selbst eine Suchtstörung entwickelt, oft schon früh in der Jugend“, sagt Klein. Etwa ein Viertel der Kinder aus Suchtfamilien leidet später an anderen psychischen Störungen wie Ängsten, Depressionen oder Psychosen. „Deren Hintergrund wird von den Betroffenen aber oft gar nicht erkannt oder erst viel später, schon in den Dreißigern.“ Etwa 40 Prozent, so Klein, bleibe gesund. „Wenn auch nicht unbedingt glücklich.“

Vor allem drei Aspekte sind es, die den Kindern helfen können, mit der schwierigen Situation im Elternhaus zurechtzukommen, sagt Klein: die liebevolle, dauerhafte Beziehung zu einem vertrauten Erwachsenen. Die Begegnung mit anderen Betroffenen und die Erfahrung, mit seinen Erlebnissen nicht alleine dazustehen. Und nicht zuletzt die Möglichkeit, selbst wieder Spaß am Leben zu finden, Erfolge zu haben, sich kreativ auszudrücken und falsche Schuldgefühle zu überwinden.

Auch Mielke betont: „Schuldgefühle sind das Einfallstor für eine eigene Sucht. Das Risiko, selbst später süchtig zu werden, ist für diese Kinder hoch. Aber sie haben auch Ressourcen - und die müssen gestärkt werden.“

Vor allem zu diesem Zweck soll es in der Woche vom 12. bis 18. Februar eine bundesweite Aktionswoche geben. Denn es gibt noch viel zu tun. „In den Schulen beispielsweise wird das Problem bislang kaum erkannt“, sagt Suchtforscher Klein. In den USA ist man schon weiter. „Im Staat New York gibt es spezielle Unterstützungsprogramme für lernschwache Schüler, in denen auch die Suchtproblematik immer berücksichtigt wird. Das Wissen um diese besondere Problemgruppe ist in Deutschland so noch gar nicht vorhanden“, sagt Mielke.

Kein familienorientiertes Hilfesystem

„Unser Hilfesystem ist nicht familienorientiert. Es wird nur der Einzelfall behandelt“, kritisiert Klein. Deshalb sind es zurzeit vor allem Kinder aus Familien mit Drogenproblemen, denen Hilfe zukommt, weil dort beim Entzug offizielle Stellen eingreifen. Das Thema Alkohol hingegen läuft diskreter. „Wir erreichen nur einen Bruchteil, vielleicht acht bis zehn Prozent, der Familien mit Alkoholproblem. Und davon wiederum nur einen kleinen Teil der Kinder.“

In Berlin versucht seit drei Jahren ein Verein, diese Lücke zu schließen. „Vergissmichnicht“ vermittelt Paten für Kinder aus Suchtfamilien. „Mittlerweile laufen 17 Patenschaften, die längste bereits zweieinhalb Jahre“, berichtet Koordinatorin Maja Wegener. Die Kinder sind zwischen 2 und 11 Jahren alt, die Paten zwischen Mitte 20 und Ende 50. „Es klappt nicht immer, aber oft“, sagt Wegener. Einmal pro Woche holen die Paten „ihre“ Kinder ab und verbringen einen Nachmittag mit ihnen. „Da geht es nicht um spektakuläre Ausflüge, sondern einfach um die Erfahrung, dass eine verlässliche Bezugsperson da ist, die das Kind und seine Bedürfnisse wahrnimmt.“

Oft lebten die Familien, die betreut würden, sozial völlig isoliert, berichtet die Sozialwissenschaftlerin. „Den Kindern fehlt damit auch jegliche Vorstellung davon, wie ein Leben ohne ständige Streitereien, ohne Alkohol aussehen kann.“ Ein solches Gegenmodell wollen die Paten sein. „Sie reden mit den Kindern nicht über die Sucht der Eltern. Aber bestenfalls erinnern sich die Kinder später einmal daran, dass da jemand war, der ihnen Mut machte.“ (dpa)