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Ein Paradies für acht Rollen

Großenhain richtet 2018 die deutsche Meisterschaft im Speedskating aus. Ein neues Kapitel einer erstaunlichen Geschichte.

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© Jürgen Lösel

Von Alexander Hiller

Es ist ruhig, sehr ruhig. Hier draußen schmiegen sich rechts drei große Hallen an die enge Zufahrtsstraße, links öffnet sich der Blick auf ein graues Oval. Eingebettet in grünen Rasen und grüne Zäune. Auf den ersten Blick nicht unbedingt einladend. Auf den zweiten ein Paradies. Geschaffen von Menschenhand, geboren in einer Politikerstube.

Acht Rollen haben Jörg Rannacher und Ute Enger nicht nur in der Freizeit an den Füßen, sie müssen sie als Ehrenamtler auch spielen.
Acht Rollen haben Jörg Rannacher und Ute Enger nicht nur in der Freizeit an den Füßen, sie müssen sie als Ehrenamtler auch spielen. © Jürgen Lösel

Am nördlichen Rand von Großenhain darbte im sogenannten Husarenviertel nach der Wende ein riesiges Areal vor sich hin. Die Nationale Volksarmee der DDR und später die Bundeswehr hatten hier die Reste eines Panzerregiments hinterlassen, samt dazugehöriger Riesengaragen. Brachland, ein 63 000 m² großer Schandfleck. Den wollte die Stadt nicht länger hinnehmen und legte unter Vorsitz des damaligen Stadtbaudirektors und jetzigen Bürgermeisters Tilo Hönicke 2005 ein ehrgeiziges Sportprojekt für die Fläche vor. Insgesamt 7,63 Millionen Euro inklusive Revitalisierung des Geländes verbaute Großenhain in den Komplex. Möglich wurde das durch verschiedene Förderprogramme – unter anderem von der EU und vom Freistaat.

Für einen Nischensport-Verein war dieser Entschluss ein Sechser im Lotto – den Großenhainer Rollsportverein (GRV). Der Klubname stammt noch aus einer Zeit, als Rollschuhe noch ziemlich hip waren. Sind sie heute nicht mehr. Auch innerhalb des Vereins ist dieser Wandel sichtbar. Rollkunstläufer gibt es unter den knapp 100 Vereinsmitgliedern nur noch ganz wenige. Der GRV versteht sich längst als modernes Leistungszentrum für Speedskating – eine Art Eisschnelllauf auf Asphalt. „Man hat uns oft bescheinigt, das sei eine der schönsten Anlagen in Deutschland“, sagt Klubchefin Ute Enger. Die 200 Meter lange Rundbahn teilt sich das Gelände im Husarenpark mit einem Fußballplatz, einem Handballfeld, einer Leichtathletik- und Beachvolleyball-Anlage und mehreren Nutzgebäuden. Ein Campingplatz hinter dem Sportpark rundet die Anlage ab.

Dass die Rollläufer vor der Rund-
erneuerung überhaupt in der Planung für einen unbefristeten Nutzungsvertrag berücksichtigt wurden, begründet sich in der langen Tradition. „Bereits seit 1939 betreibt man in Großenhain organisierten Rollsport, wenn man von einigen Zwangspausen absieht“, heißt es 1963 in einem Artikel des DDR-Fachmagazins Der Rollsportler. 1954 hatte sich die Sektion Rollsport in der BSG Stahl Großenhain gegründet. Und diese Tradition ist hier nie gestorben. Nur die Rollen haben sich verändert. Die Speedskater gleiten auf vier nacheinander angebrachten Kunststoffrädern über den Asphalt. „Wir waren als Sportart schon immer recht erfolgreich, haben uns einen gewissen Namen in der Stadt erarbeitet. Jahrelang hofften wir auf eine neue Bahn und sind der Stadt unendlich dankbar“, unterstreicht Klubvize Jörg Rannacher, der auch als Trainer fungiert.

Dafür verfolgt der GRV in puncto Speedskating immer ehrgeizigere Ziele. Der Verein hat den Zuschlag für die Ausrichtung der deutschen Meisterschaft 2018 erhalten. „Wir haben alle Bedingungen hier. Warum also nicht so ein Highlight in die Stadt holen“, sagt Ute Enger. 350 Starter werden dann im kommenden Sommer erwartet. Rechnet man jeweils den Anhang noch dazu, kommt da auf die Region auch wirtschaftlich eine Herausforderung, womöglich ein einträgliches Geschäft zu.

„Zum einen wollen wir die besten Speedskater Deutschlands alle mal herlocken. Zum anderen wollen wir alle Großenhainer bei diesem Großereignis mitnehmen. Wir möchten ja auch etwas zurückgeben“, erklärt Rannacher die Motivation hinter der Meisterschaftsbewerbung. Gehen alle Hoffnungen auf, würde sich der Verein auch an noch größere Projekte trauen. „Die Bahn entspricht europäischen Normen. Es ist aber sehr schwierig, an Europacups heranzukommen. Aber das könnten wir uns als nächstes Ziel stecken“, denkt Rannacher laut nach. Wie aufwendig das Projekt deutsche Meisterschaft ist, verdeutlicht die Tatsache, dass das zwölfköpfige Organisationsteam bereits jetzt seine ehrenamtliche Arbeit aufgenommen hat.

Ein solches Großprojekt garantiert ein Mindestmaß an medialer, an öffentlicher Aufmerksamkeit. Die ist für Speedskating, wie für jede andere Nischensportart, fast überlebenswichtig. „Was wir hier machen, ist Hochleistungssport. Unsere Besten trainieren jeden Tag, manchmal auch zweimal“, unterstreicht Ute Enger. Der 53-Jährigen darf man das glauben, sie war als Eisschnellläuferin kurzzeitig an der Kinder- und Jugendsportschule (KJS) in Dresden und ist mittlerweile mehrfache Senioren-Weltmeisterin im Speedskating.

Die Nachwuchsarbeit fruchtet. Elisabeth Baier, im Vorjahr sensationell Dritte bei der Junioren-WM über 100 Meter, steht dafür exemplarisch. Die 16-Jährige gehört seit letzter Saison zum Talenteteam des ESC Erfurt – im Eisschnelllauf. „Sie betreibt beides parallel, im Winter auf Eis, im Sommer bei uns. Sie startet im Speedskating auch weiter für Großenhain“, sagt Jörg Rannacher. „Wir sind eben keine olympische Disziplin. Wenn man solche herausragenden Athleten hat, möchte man denen auch diesen Weg öffnen. Der Weg zu Olympia geht für sie derzeit nur über das Eis“, erklärt der Trainer. Wehmütig klingt er dabei nicht. Diese Einstellung ist Teil der Klubvision. „Wir sind bestrebt, im Nachwuchsbereich noch mehr Talente hervorzubringen, die Erfolge bei deutschen, Europa- und Weltmeisterschaften haben“, sagt Ute Enger. Wenn das irgendwo gelingen kann, dann in diesem Speedskatingparadies.