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Ein Nest für verlorene Kinder

In einer Bautzener Tagesgruppe findet Zuflucht, wer kein schönes Zuhause hat. Die Plätze reichen gar nicht.

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© Uwe Soeder

Von Jana Ulbrich

Anna hat angefangen, die Tapete abzupulen. Eigentlich müsste Vivian Welsandt dda jetzt ärgerlich werden. Aber im Stillen freut sich die Erzieherin darüber. Tapete abpulen ist ein Fortschritt. Bis jetzt hat sich Anna immer die Wimpern ausgerissen oder büschelweise Haare, wenn sie sich unsicher oder gestresst fühlt. Die Achtjährige mit den süßen Knopfaugen hat keine einzige Wimper mehr. Und wieder eine kahle Stelle überm Ohr.

Vivian Welsandt streicht dem Mädchen liebevoll über den Kopf. Sie setzt ihm Fido, den Hund, auf den Schoß. Das braune Plüschtier, dem anzusehen ist, dass es sehr, sehr oft gebraucht wird, soll Anna Mut machen. Sie will ja aufhören mit dem Wimpern- und Haareausreißen. Aber so einfach ist das nicht für eine Achtjährige, die an kindlicher Depression leidet und eine hohe Dosis Tabletten schlucken muss. Wie selbstverständlich zählt Anna die langen, schwierigen Namen ihrer Medikamente auf. „Die hier muss ich früh nehmen, die zu Mittag und die abends. Aber von denen hier, da brauche ich jetzt bloß noch eine“, fügt sie stolz hinzu.

Was ist das nur für eine Kindheit. „Es gibt Kinder, die haben keine Kindheit“, sagt Vivian Welsandt leise. Es gibt erschreckend viele Kinder im Landkreis Bautzen, die keine richtige Kindheit und kein schönes Zuhause haben. Sieben solcher verlorener Seelen kommen jeden Nachmittag zur Betreuung in die Bautzener Tagesgruppe Ritter. Vivian Welsandt arbeitet hier als Erzieherin gemeinsam mit ihrer Kollegin Ulrike Hänsel und ihrem Lebensgefährten Harald Ritter, dem Leiter der privaten Einrichtung zur Erziehungshilfe.

Finanziert wird die Tagesgruppe vom Landkreis. Das Jugendamt vermittelt die Plätze. Normalerweise gibt es nur sechs in der gemütlichen Wohnung des sanierten Bautzener Gründerzeithauses mit dem schönen großen Garten. Für das siebente Kind hat die Tagesgruppe eine Ausnahmegenehmigung. Weil der Bedarf viel größer ist als das Angebot. Sechs solcher speziellen Tagesgruppen zur Erziehungshilfe gibt es im Kreis Bautzen – Zufluchtsorte für gegenwärtig 50 Kinder wie Anna. Oder wie den kleinen Leon, der schon neun ist, aber so klein und zierlich und in seiner Entwicklung zurückgeblieben, dass man ihn leicht für einen Sechsjährigen halten könnte. Oder Tim, mit zehn einer der Ältesten in der Gruppe. In der Schule eckt er mit seinem Verhalten immer wieder an, kommt mit niemandem klar. Hier in der Tagesgruppe ist er einfach nur Kind.

Die Kinder hier haben schon viel hinter sich. Sie haben Kälte und Gewalt erlebt in ihren Familien, die keine richtige Familie sind. Sie leiden unter dem Streit getrennter Eltern, erleben immer wieder Bindungsabbrüche, erleben Alkohol- oder Drogenabhängigkeit. Manche waren auch schon in Pflegefamilien untergebracht.

Harald Ritter lässt die Kinder machen. Sie sind draußen im Garten. Sie sind jeden Nachmittag draußen, bei Wind und Wetter, wenigstens eine halbe Stunde lang, manchmal den ganzen Nachmittag. Das macht den Kopf frei. Der Garten ist ein Paradies mit einem Kirschbaum zum Klettern und Naschen, mit Beeten zum Buddeln und Erdbeeren züchten, mit Platz zum Rennen, einem Dach bei Regen und mit dieser herrlichen Burg aus Ästen und Knüppel, die Harald Ritter gemeinsam mit den Kindern gebaut hat. Tim hat mitgearbeitet wie ein Wilder. Und Harald Ritter hat ihm anerkennend auf die Schulter geklopft. Tim war stolz wie ein Schneekönig.

Jetzt hat er sich in der Knüppelburg verkrochen und ist Bello, der Hund. Der kleine Leon spielt den Tierarzt. Tierarzt will er nämlich mal werden, erzählt er. Jetzt muss er Bellos große Wunde verarzten. Er tut so, als ob er den langen Riss in Tims Jackenärmel näht. Der Riss ist schon lange in Tims Jacke.

Anna, die Achtjährige, hat gerade überhaupt keine Zeit zum Wimpernausreißen. Sie hat im Moment Verantwortung: Unermüdlich zieht sie den Bollerwagen durch den Garten, auf dem die kleine Tochter von Vivian Welsandt und Harald Ritter vor Freude quietscht. Anna geht ganz vorsichtig und liebevoll mit der Kleinen um. Was für ein erstaunliches Einfühlungsvermögen das Mädchen doch hat. Hier in der Gruppe kann sie es zeigen. Hier bekommt sie Anerkennung.

In einer Ecke im Garten liegen Bretter. Die Kinder wollen sich eine Ritterburg bauen. Heute soll es losgehen. Ulrike Hänsel, die jeden Nachmittag aus Radeberg zur Arbeit in die Tagesgruppe kommt, hat das Werkzeug geholt. Alle stürmen herbei und wollen gleich mithelfen. Ulrike Hänsel muss schmunzeln. Wer sich besonders anstrengt, beim Abwaschen oder bei der Gartenarbeit hilft oder seine Hausaufgaben besonders gut macht, der kann sich bunte Chips verdienen. Wer genügend Chips gesammelt hat, bekommt am Monatsende eine kleine Belohnung. Zuletzt waren es Kinogutscheine, im Dezember fahren alle zusammen auf den Weihnachtsmarkt.

„Wenn Ihr so weitermacht, kriegen wir die Ritterburg bestimmt noch vor dem Winter fertig“, ruft Ulrike Hänsel den Kindern zu. Die sind Feuer und Flamme und wollen selbst jetzt, als es schon anfängt zu dämmern, gar nicht mehr ins Haus. Aber jetzt ist Vesperzeit. Der Nachmittag in der Gruppe verläuft nach den immer gleichen Regeln und Ritualen: Zuerst einmal ankommen und sich ausruhen können, in Ruhe Mittagessen, die Hausaufgaben machen. Dann spielen, basteln, rausgehen, vespern. Die feste Tagesstruktur, die sie so zu Hause oft nicht kennen, gibt den Kindern Sicherheit und Orientierung.

Irgendwann neigt sich der Nachmittag zum Abend. Die Kinder werden abgeholt oder von den Mitarbeitern nach Hause gebracht. Zurück in die Welt, in die sie eigentlich gehören. Tim würde am liebsten hierbleiben in diesem schönen, warmen Nest. Ulrike Hänsel muss ihn trösten: „Morgen nach der Schule kommst Du doch schon wieder, Großer. Dann bauen wir weiter an der Burg. Versprochen.“

Bald werden die Kinder der Tagesgruppe noch viel mehr bauen können: Die Stiftung Lichtblick erfüllt ihnen ihren großen Weihnachtswunsch nach einem Bauwagen mit Fröbelbausteinen.

Die Namen der Kinder haben wir aus Gründen des Datenschutzes geändert.