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Ein Methusalem am Lenkrad

Rentner Günter Dschietzig aus Königswartha fährt für Regiobus immer noch im Linienverkehr – und hält einen Rekord.

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© Uwe Soeder

von Stefan Schramm

Abfahrbereit steht der große Linienbus morgens am August-Bebel-Platz in Bautzen, gleich hinter der Maria-Martha-Kirche, in einer Reihe mit einigen anderen Fahrzeugen. Günter Dschietzig steigt ein, schaut sich noch kurz um und nimmt auf dem Fahrersitz Platz – nicht zum ersten Mal an diesem Tag, denn seine Schicht begann früh am Königswarthaer Busbetriebshof. Dann startet er sein Gefährt, lenkt es wenige Meter weiter an der Mobilitätszentrale vorbei. Und pünktlich um 9.10 Uhr rollt der Bus vom Typ Setra in Bautzens Zentralen Omnibusbahnhof ein.

Die Leute warten schon. An die 30 Passagiere steigen an der vorderen Tür ein, darunter eine Schulklasse. Artig zeigen die Jugendlichen dem Busfahrer ihre Fahrausweise vor – jemand bittet ihn, doch wenigstens kurz auch die hintere Tür zum Lüften zu öffnen. Es ist warm in Bautzen und schon morgens ist die Luft im Bus ein bisschen stickig. Einige Mitfahrer müssen noch einen Fahrschein kaufen. „Einmal Großsärchen bitte“, sagt eine Frau. „Fünf Euro bitte“, erwidert Günter Dschietzig, nimmt das Geld entgegen und gibt das Ticket heraus.

Dann schließt sich die Tür und die Fahrt der Linie 103 von Bautzen über Cölln, Neschwitz, Königswartha und Knappenrode bis nach Hoyerswerda beginnt. Planmäßig eine Stunde später wird der Bus dort eintreffen. Und das, obwohl durch die vielen Einsteigenden schon zwei Minuten Verspätung zu beklagen sind. „Die holen wir wieder rein“, verspricht Günter Dschietzig direkt nach Fahrtantritt. Das sagt ihm seine Erfahrung. Und die ist groß. Sehr groß.

Günter Dschietzig ist der älteste Busfahrer, der für das Unternehmen Regionalbus Oberlausitz am Steuer sitzt, wie Geschäftsführerin Andrea Radtke bestätigt. Seine 73 Jahre merkt man ihm aber nicht an. Mit ruhiger Hand und gewissenhaft lenkt er den Omnibus mit den 50 Sitz- und 30 Stehplätzen durch die Stadt, als hätte er nie etwas anderes getan. Hat er aber. Günter Dschietzig ist gelernter Karosseriebauer, absolvierte seine Ausbildung Ende der 1950er Jahre. Der VEB Kraftverkehr Bautzen stellte ihn 1960 als Karosserieklempner ein. Dort arbeitete er, bis er zur Fahne musste. Im Jahr nach dem Bau der Berliner Mauer führte die Nationale Volksarmee 1962 die Wehrpflicht ein, Dschietzig gehörte zu den ersten Rekruten. Beim Militär machte er erstmals einen Busführerschein. „Später im zivilen Leben zählte der nicht mehr“, sagt er.

Ende 1963 war sein Wehrdienst vorbei. Auf der Außenstelle des VEB Kraftverkehr in Königswartha bekam er eine Stelle als Schlosser. Und er machte 1964 erneut den Busschein, verfügt nun am Buslenker über ein halbes Jahrhundert an Expertise. „Ja, mal einen Spiegel abgefahren – aber größere Zwischenfälle hatte ich in dieser langen Zeit nie“, freut er sich. Von 1968 bis 1972 besuchte Günter Dschietzig die Kfz-Meisterschule in Löbau, um anschließend beim Kraftverkehrsbetrieb in Bautzen als Revisionsmeister zu arbeiten. „In der Werkstatt waren wir 30 Leute, darunter drei Brigadiers, und für die turnusmäßige Überprüfung der Fahrzeuge nach 5 000 gefahrenen Kilometern verantwortlich“, erzählt er.

Dann kam die Wende und 1991 ging in Königswartha ein Verkehrsmeister in den Ruhestand. Günter Dschietzig wurde dessen Nachfolger, sattelte mit 50 Jahren noch mal um. Dienstpläne erstellen, Fahrdienst aufrechterhalten, bei Busausfall Ersatz organisieren. „Dort musste ich mich um alles rund um den Busverkehr kümmern“, erinnert er sich. „Wenn früh einer verschlafen hat, bin ich selber eingesprungen.“

Bis 2000 machte er das. „Dann ist der Betrieb an mich herangetreten“, sagt er. Es ging um den weiteren Weg bis zum Eintritt ins Rentenalter. Der Kompromiss: Bis 2002 erhielt er Arbeitslosengeld, dann ging er in den Ruhestand. Ohne Abzüge. Doch ins ewige Busdepot wurde er nicht geschickt. Denn seinen Busführerschein hatte Günter Dschietzig ja noch. Den braucht jeder, der mehr als acht Fahrgäste befördern will. Ab dem 50. Lebensjahr wird die Fahrerlaubnis für fünf Jahre erteilt. Danach verliert sie ihre Gültigkeit. Wer sie verlängern lassen möchte, muss eine Prüfung absolvieren.

Der Fahrer muss nachweisen, dass er die großen Anforderungen an Belastbarkeit, Aufmerksamkeit, Orientierung und Reaktionsfähigkeit erfüllt. Nur zuverlässigen Menschen will man neun oder mehr Passagiere anvertrauen. Günter Dschietzig habe wie all seine Kollegen regelmäßige Qualifizierungsmaßnahmen und gesundheitliche Tests zu absolvieren, erklärt seine Chefin Andrea Radtke. Sämtliche Anforderungen erfüllt er. Und so fährt er auch noch im Rentenalter mit dem Bus durch den Landkreis. „Ich empfinde das nicht als Anstrengung, sondern Busfahren macht mir Freude. Man muss nur konzentriert sein und immer im Auge haben, dass hinten im Bus Leute sitzen“, berichtet der 73-Jährige.

Dass er dabei Geld verdiene, sei „ein guter Nebeneffekt“, mehr aber auch nicht. Bei 450 Euro monatlich liegt die Lohnobergrenze, die er aber nie erreicht. Seit 2001 fährt er nach Bedarf, keineswegs aber täglich. An diesem Tag ist er insgesamt sechseinhalb Stunden unterwegs. Von Hoyerswerda geht es weiter nach Uhyst, dann zurück nach Königswartha. „Ich war damals der erste der jetzt etwa zehn Leute, der bei Regiobus als Rentner noch den Busschein genutzt hat“, erzählt er. Gern nimmt das Unternehmen seine Dienste in Anspruch.

„Zwei-, dreimal im Jahr kommt es vor, dass früh halb fünf daheim in Königswartha das Telefon klingelt und ich gefragt werde: Günter, kannst du auf Arbeit kommen?“, lässt Dschietzig eine Tücke des Aushelfer-Daseins nicht unerwähnt. Aber seine Frau habe nichts dagegen. „Sie sagt, dass ich so lange Bus fahren soll, wie ich es mir zutraue“, erklärt Günter Dschietzig. Das ist ebenso seine Meinung, und so hat er bereits seinen Abschied im Visier. Entschlossen kündigt er an: „Bis Herbst 2015 gilt mein Busschein noch, dann ist Schluss!“