SZ +
Merken

Ein Leben über dem Abgrund

Der Pirnaer Ronald Reichelt erklettert Felsen, Brücken und Schornsteine. Manchmal nimmt er Passagiere mit.

Teilen
Folgen
NEU!
© Daniel Förster

Von Thomas Morgenroth

Da hängen die zwei Männer über einem vierzig Meter tiefen Abgrund, und anstatt sich zu fürchten, strahlen sie mit der Sonne um die Wette. Mit einem beruhigenden Lachen hin zu Partnerin und Mama Sabrina Lubert seilten sich der Pirnaer Ronald Reichelt und sein Sohn Milan, damals fünf, im vergangenen Jahr von der Mauer der Festung Königstein ab. Reichelts Junior, barfuß, aber ordentlich vergurtet und mit rotem Helm auf den blonden Locken, war zwar der jüngste, aber nicht der erste und einzige Passagier, den der selbstständige Industriekletterer mit auf die adrenalinfördernde Spritztour nahm.

Am ersten Augustwochenende haben Wagemutige wieder Gelegenheit, sich mit dem 35-jährigen Profi abzuseilen und zu fühlen, wie es ist, außer Luft nichts unter den Füßen zu haben. Ronald Reichelt ist einer der Akteure des Outdoor-Festivals „Festung aktiv“. Für ihn eine gute Gelegenheit, sich und sein Unternehmen „Industrieklettern Sachsen“ sowie seine Kletterschule zu präsentieren. Mit beiden ist der seit mehr als zwanzig Jahren aktive Kletterer mittlerweile etabliert, was ihn gelegentlich selbst erstaunt. Denn eigentlich wollte er Kulturmanager werden, dafür hat er studiert, in Merseburg, Görlitz und im rumänischen Klausenburg. Aber trotz des Abschlusses mit einem Bachelor of Arts setzte sich die Passion durch: „Ich konnte mir nicht vorstellen, immer nur im Büro zu sitzen. Das ist einfach nichts für mich.“

Struppener als Mentor

Da seilt sich der durchtrainierte Mann lieber ab, wie jüngst an der dreißig Meter hohen Bahretalbrücke in Ottendorf, um dort einen an der Unterseite angebrachten Geocache zu entfernen. Eine Aktion, die ihm wegen des kleinen Plastekästchens große mediale Aufmerksamkeit brachte, die, hätte es sich nur um eine Inspektion gehandelt, sonst wohl keinen interessiert hätte. Für Reichelt ist es ohnehin Alltag, was nicht heißt, dass es keine Herausforderung ist. Mehr als zwei Stunden brauchten er und sein Mitstreiter Heiko Jahnke, bis die Unterfahrung aufgebaut war.

Sicherheit steht an erster Stelle, da überlässt Reichelt nichts dem Zufall, darf er auch nicht. Er hat nicht nur einschlägige Erfahrungen, sondern auch alle dafür nötigen Zertifikate erworben, zum Beispiel als Sachkundiger für Persönliche Schutzausrüstung gegen Absturz, für Spezialbaumfällungen, für das Arbeiten auf Offshore-Plattformen und vor allem als Gruppenführer Höhenrettung und aufsichtsführender Höhenarbeiter. Inzwischen darf Reichelt sogar selbst ausbilden. Sein Ausbilder und Mentor auf dem Weg in die Selbstständigkeit, mit dem er heute regelmäßig zusammenarbeitet, war Holger Hebold aus Struppen, dessen Firma Höhensicherheitstechnik ein Fachausbildungsbetrieb für seilunterstützte Arbeit und Rettung ist.

Die praktische Basis für seinen Beruf ist die Kletterei. Darauf hatte ihn mit 14 Jahren sein zehn Jahre älterer Bruder Albrecht Nitzsche gebracht. Sein erster Aufstieg war die Nordwand der „Schiefen Zacke“ im Bielatal, eine Schwierigkeit 3. Heute geht Reichelt, der auch schon in Rumänien, Albanien oder Südamerika klettern war, eine 9C oder 10A im Vorstieg. Seine Erfahrungen gibt er in seiner Kletterschule weiter oder nutzt sie für geführte Touren im Elbsandsteingebirge. Seine Brötchen freilich verdient er mit der Industriekletterei.

Mit der Firma Hebold hatte Ronald Reichelt 2012 seinen ersten Auftrag. Hebold war mit der Höhensicherung bei der 32 Millionen Euro teuren Revision des Kohlekraftwerkes Petershagen in Nordrhein-Westfalen beauftragt. In 24-Stunden-Schichten war Reichelt dort drei Monate lang im Einsatz. Mit ihm mehr als ein Dutzend anderer Industriekletterer, eine gute Gelegenheit, Kontakte zu knüpfen. Die Zusammenarbeit mit Heiko Jahnke zum Beispiel, der in der Nähe von Pulsnitz wohnt, geht auf Petershagen zurück. Im Grunde, sagt Reichelt, sind die meisten Industriekletterer Einzelkämpfer, die sich je nach Aufgabe zu Teams zusammenschließen. „Dabei geht es nicht nur um Spezialkenntnisse, sondern um Vertrauen, um Loyalität und Sicherheit gegenüber dem Partner.“ Letztlich geht es ja im Ernstfall um Leben und Tod, eine solche Situation aber hatte Reichelt zum Glück bisher noch nicht.

Manche Aufgaben erledigt der Spezialist alleine, wie die Erarbeitung von Sicherheits- und Rettungskonzepten. Aber auch das Reinigen von Dachrinnen gehört dazu oder die Notsicherung einer losen Ecke an der Knabenschule in Pirna, die auf den Erlpeterbrunnen zu stürzen drohte. Dort sparte sich der Auftraggeber durch den Einsatz des Kletterers ein Gerüst. Aus diesem Grund kam Reichelt auch bei der Sanierung des Torhauses und der Streichwehr auf der Festung Königstein zum Einsatz. Er setzte an einer schwer zugänglichen Stelle der Außenwand einen Flansch auf einen Anker auf, der zur Sicherung des Mauerwerkes eingezogen werden musste.

Deutlich länger als dort, nämlich mehr als zehn Wochen, war Reichelt in diesem Jahr an und in einem anderen bedeutenden Denkmal beschäftigt: auf der Wilhelmshöhe in Kassel, dem größten Bergpark Europas, der seit 2013 Unesco-Weltkulturerbe ist. Die 2,4 Quadratkilometer große Anlage, deren Bau 1696 begann, wird derzeit umfassend saniert. Reichelt hatte die Aufgabe, Fachleute der Denkmalpflege mit der Seiltechnik vertraut zu machen und deren Sicherheit zu überwachen, damit diese den künstlich angelegten Wasserfall unterhalb der Herkules-Statue restaurieren können. Mehr als 1 200 Meter Fugen mussten in den gemauerten Steinen erneuert werden. Ein Gerüst konnte an dieser Stelle nicht aufgebaut werden.

Aufträge in Venedig und Linz

Aufträge führten Reichelt aber auch schon nach Venedig in Italien auf das Kreuzfahrtschiff Queen Elisabeth, nach Linz in Österreich auf einen 70 Meter hohen Schornstein der Voestalpine AG, auf eine Verteilerstation der Windkraftanlage Borwin Beta in der Nordsee oder nach St. Petersburg in Russland in die Eremitage. Reichelt übernimmt auch Hangsicherungen für die Deutsche Bahn, und er reinigte im Braunkohlentagebau in der Lausitz eine Förderbrücke. Eines aber würde er aus Überzeugung nicht tun: die Wartung eines Atomkraftwerkes unterstützen. „Ich helfe aber gern beim Abbau“, sagt er lachend.

Die handwerklichen Fähigkeiten dazu hätte er. Reichelt, der in Pirna-Copitz aufgewachsen ist, lernte den Beruf eines Gas- und Wasserinstallateurs, machte dann aber noch sein Fachabitur, um sich beruflich Richtung Kultur neu orientieren zu können. Diese Neigung resultierte aus seiner ehrenamtlichen Tätigkeit beim Uniwerk in Pirna, einem Verein, mit dem er von 1996 bis 2005, zeitweise federführend, Konzerte und Ausstellungen organisierte, bevorzugt in der Schmiedestraße 55.

Erst später stellte er fest, dass ihm die körperliche Betätigung doch mehr liegt. Dennoch war das Studium ganz entscheidend für Reichelts Leben: In Merseburg nämlich lernte er seine Partnerin Sabrina Lubert kennen, mit der er inzwischen zwei Söhne hat, Milan, 6, und Lewin, 2.

In diesem Jahr wird sich Ronald Reichelt dann wohl mit zwei strahlenden Burschen an der Festung Königstein abseilen. Oder gleich ganz in Familie.

„Festung aktiv“, am 1. und 2. August, jeweils 9 bis 18 Uhr, auf dem Königstein; Stargast: Reinhold Messner.

www.industrieklettern-sachsen.de