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Ein Herz für Hörnchen

Ohne einen Ort wie das Asyl von Jaqueline Gräfe hätten manche der kleinen Nager keine Chance. Ein Besuch.

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© Matthias Rietschel

Von Tobias Wolf

Neugierig gucken Josy, Luca und Lina über den Rand der Plastikbox. Die kleinen Augen irren suchend umher, bleiben kurz am Strohhaufen in der Ecke hängen. Dann ducken sich die rotbraunen Eichhörnchen wieder in die weichen Frotteetücher. Das hier sieht nicht nach Mamas Wohnzimmer aus. Kleine Äste und Holzstückchen bedecken den Boden der Voliere. Darüber eine Landschaft aus Seilen, Stoffstreifen und Nestern. Fritz ist das egal. Im Nachbarkorb wuselt das schwarze Hörnchen hin und her. Als es so weit ist, springt es blitzartig heraus und rennt am Maschendrahtgitter hoch. Nur 92 Gramm wog Fritz, als Pflegemutter Jacqueline Gräfe ihn völlig dehydriert aufnahm, nun ist er über 200 Gramm schwer und putzmunter. Josy zögert, guckt zu Mama und macht dann doch einen Satz, Luca hinterher. Lina ist nicht aus dem Korb zu locken. „Was ist denn los, du bist doch sonst immer so keck.“ Erst mit etwas Nachhelfen springt die Kleine auf das künstliche Geäst. Fritz und Josy turnen da schon vergnügt durch den Mini-Wald.

... die in Not geratene Eichhörnchen seit über zwei Jahren liebevoll aufpäppelt.
... die in Not geratene Eichhörnchen seit über zwei Jahren liebevoll aufpäppelt. © Matthias Rietschel
Emilio wartet auf die Rückkehr in die Freiheit. Den kleinen kessen Kerl hatte eine Katze verletzt. Bald wird er wieder ausgewildert.
Emilio wartet auf die Rückkehr in die Freiheit. Den kleinen kessen Kerl hatte eine Katze verletzt. Bald wird er wieder ausgewildert. © Matthias Rietschel

„Das ist immer ein toller Moment, wenn ich sie herbringe.“ Es ist die erste Stufe des Auswilderns. Für etwa vier Wochen ist die 15 Quadratmeter große Voliere in Gräfes parkähnlichem Garten in Dresden-Zschachwitz das Zuhause der Nager. Damit sie sich an die Natur gewöhnen, bevor sie ganz heraus dürfen. Selbst dann kommen sie manchmal nachts noch zum Schlafen in die Voliere oder holen sich Futter. Die 48-Jährige betreibt seit über zwei Jahren eine Auffangstation für in Not geratene Hörnchen. Bundesweit hat sie etwa 100 Gleichgesinnte, die im Verein Eichhörnchennotruf organisiert sind. Das Päppeln ist wie der Dauerjob einer Mutter, nur mit vielen Babys auf einmal und noch weniger Schlaf. „Letzte Nacht waren es dreieinhalb Stunden, manchmal muss ich alle zwei Stunden Milch geben.“

Luca und Josy hingen hilflos in einer Astgabel auf einem Dresdner Friedhof, als sie von Kindern gefunden wurden, sagt Gräfe, während sie Kürbiskerne, Walnüsse, Haselnüsse, Karotten, Gurke und Apfelstücke für den ersten Schmaus im neuen Heim vorbereitet. „Manche füttern die Eichhörnchen mit Toastbrot oder Süßigkeiten, das kann tödlich sein“, sagt Gräfe.

Fritz und Lina sind in Chemnitz aus dem Kobel gefallen, wie das Hörnchennest heißt. Sind die Jungtiere unterkühlt, verletzt oder bluten, holt sie die Mutter nicht zurück. Schutzlos sind sie dann Krähen oder Füchsen ausgeliefert. Gräfe guckt auf die Uhr. Sie muss gleich nach Hause. Rosalie, Max und Moritz bekommen ihre Milch, die etwas ältere Dreierbande Körnerfutter, bevor der Dienst am Eichhörnchen-Notruftelefon beginnt. Jede Woche zwei Stunden. Die Vereinsmitglieder wechseln sich ab.

Gräfe geht eine letzte Runde durch den Garten und die Nachbargrundstücke. Überall an den Bäumen hängen Holzboxen mit Haselnüssen für die Schützlinge. „Ich hab tolle Nachbarn, sie haben auch ein Herz für Hörnchen und unterstützen mich.“ Dann entdeckt sie Elias. Gut fünf Meter über ihr turnt er durch den Wipfel einer Fichte. Vor drei Wochen hat sie ihn ausgewildert. „Er war mein erstes Pflegetier in diesem Jahr“, sagt sie. „Manche kommen immer wieder vorbei, zum Hallo-Sagen oder wenn es ihnen schlecht geht.“ Erst am Dienstag fand sie einen ihrer Schützlinge im Garten, mit einer Wunde, in der schon Fliegen nisteten. Jetzt kuriert das Männchen sich in einer Quarantäne-Voliere aus. Die Namen bekommen die kleinen Racker von ihren Findern. Über ihre Facebook-Seite „Hörnchenhausen“ hält Gräfe die Retter mit Fotos auf dem Laufenden.

Ein Mann aus Bielefeld ist am Telefon. Er hat ein Hörnchen im Garten gefunden. Gräfe fragt nach der Größe und ob die Augen offen sind. „Okay, es ist zehn Zentimeter lang inklusive Schwanz, und die Augen sind zu“ wiederholt sie die Antwort. „Wenn das Fell noch glatt anliegt, ist es knapp vier Wochen alt, schätze ich.“ Gräfes Notruf-Callcenter besteht aus Telefon, Notizblock und Laptop. Die Deutschlandkarte auf dem Bildschirm zeigt die Standorte der Auffangstationen im ganzen Bundesgebiet. Hinter ihr lehnt ein Kissen an der Wand. Darauf ein Eichhörnchen. Sie notiert die Daten des Bielefelders. Name, Straße, Postleitzahl. „Wir haben eine Station in der Nähe, können Sie es hinbringen?“ Der Anrufer bejaht. „Das Tier darf nicht auskühlen, haben sie eine Wärmeflasche oder eine Plastikflasche, die Sie mit warmem Wasser füllen können?“ Sie fragt nach Verletzungen, gibt noch ein paar Tipps und legt auf. Jetzt muss Gräfe die Auffangstation erreichen. Nach fünf Minuten gibt sie dem Mann Rückmeldung. Läuft jetzt alles gut, überlebt ein weiteres Eichhörnchen.

Dann ist eine Arzthelferin aus Bremen dran. Sie pflegt seit zwei Tagen ein verwaistes Jungtier. In der Umgebung gibt es keine Auffangstation, deshalb will die Frau selbst eine eröffnen. Gräfe verspricht, eine Mentorin aufzutreiben, schreibt eine erfahrene Pflegerin an. In den nächsten Wochen bekommt die Bremerin Hilfe und Tipps für die richtige Ausrüstung. Hörnchenretten geht ins Geld. Über 1 000 Euro gibt Gräfe im Jahr aus. Für Futter, Volieren, Benzin. Ein Tierarzt unterstützt sie. Allein das Röntgen kostet 40 Euro.

Pro Schicht gibt es bis zu 20 Notfälle. Anrufer aus Sachsen melden sich oft direkt, weil viele Tierärzte Gräfes Nummer haben und ihr vertrauen. „Die Leute meinen es gut, bringen die Tiere aber auch in Gefahr“, erzählt Gräfe. Einer habe ein verwaistes Hörnchen im Hasenstall auf dem Hof untergebracht, dabei braucht es doch Wärme. Manche geben Kuhmilch. Das kann schwere Krämpfe verursachen. Ziegenmilch sei gut verträglich, aber auch Welpenmilch für Hunde und Katzen.

Wie kommt man dazu, Eichhörnchen zu retten? „Wer ernsthaft helfen will, bekommt einen Mentor zur Seite gestellt, der das nötige Wissen vermittelt“, sagt Gräfe. Die Initialzündung erlebte die Tierfreundin im eigenen Garten. Ein Junges krabbelte über den Boden. Es war schon zu schwer für die Mutter, die es nicht mehr in den Kobel zurücktragen konnte. Gräfe rief bei der Greifvogelhilfe Weinböhla an. Dort hieß es, dass sich gerade niemand in der Region um Eichhörnchen kümmere. „Da wollte ich es selbst aufpäppeln.“ Doch am nächsten Tag lag es im Garten, tot gehackt von einer Krähe. Ein Schock für Gräfe. Aber am nächsten Tag kam ein Anruf, ob sie nicht ein Hörnchen aus Dresden-Striesen aufnehmen könne. Aus dem ersten sind bis heute über 40 Pflegefälle geworden.

Rosalie ist das erste „Nacksche“ und passt immer noch auf den Handteller. Nur Kopf und Pfoten gucken aus dem weichen Tuch heraus. „Du kleckerst heute ganz schön mit der Milch“, mahnt sie die Kleine. Drei Tage war Rosalie alt und nur 16 Gramm schwer, als Kurgäste das Würmchen Ende Mai in Bad Lausick fanden und abgaben. Sie war wohl nach einem schweren Sturm aus dem Kobel gefallen, hatte eine Wunde am Kopf. Jetzt, zweieinhalb Wochen später, ist Rosalie doppelt so schwer, die Verletzung verheilt. Dafür hat Jacqueline Gräfe Nachtschichten in Kauf genommen, alle zwei Stunden gefüttert.

Als Selbstständige kann sie sich die Zeit einteilen und für die Hörnchen da sein. Es ist zur Mission geworden, nicht nur die Pflege. „Viele denken, Hörnchen, die nicht rot sind, könnten Eindringlinge aus Amerika sein, die einst nach Britannien eingeschleppt wurden und hiesige Arten verdrängen.“ Im englischen Sprachraum gelten die Nager mancherorts sogar als Delikatesse. US-Internetseiten listen Eichhörnchen-Rezepte. „Streifen- oder Grauhörnchen gibt es in Deutschland nicht“, sagt Gräfe. „Wenn sie dunkler oder schwarz sind, liegt das an der natürlichen Nahrung in der jeweiligen Region.“ In Chemnitz seien sie eher schwarz, im Erzgebirge dunkelbraun, in Dresden dunkel- und in Leipzig hellrot, hat Gräfe beobachtet.

Inzwischen geht sie in Schulen und Tagesstätten. „Die schönsten Fragen kommen in der Kita“, sagt sie. „Etwa: Kümmert sich bei den Eichhörnchen auch der Papa um den Nachwuchs?“ Zum Dank sammeln die Kinder Futter. Fünf Kilo Bucheckern aus Pirna, 20 Kilo Haselnüsse aus Dresden. „Ich bin immer ab Herbst auf Futterjagd in Freital.“ Sie hat ein Waldstück entdeckt, in dem Esskastanien herumliegen, die sie einfriert, falls ein Hörnchen im Winter Hilfe braucht. Die allermeisten kommen aber zwischen März und September, der Hauptzeit für den Nachwuchs.

Glucksend saugt Rosalie die Welpenmilch aus der Minispritze, die kleinen Pfoten rudern durch die Luft. Gräfe holt sie aus dem Tuch, lässt das Eichhörnchen mit einer Bauchmassage die Wärme ihrer Finger spüren. „Damit sie keine Blähungen bekommt, die Mutter würde den Bauch ablecken.“ Die Kleine entspannt sich. Ganz ruhig ist Rosalie, als sie die Wange der Pflegemutter spürt. Zum Mittagsschlaf geht’s zurück in das warme Stoffsäckchen. Dann sind Max und Moritz dran. Sie sind eine Woche älter als Rosalie und seit Dienstag da. Eine Lehrerin aus Bischofswerda hat sie zur Patientenübergabe bis nach Rossendorf gebracht. Gräfe hat sie mitgenommen.

Spritze desinfizieren, Milch einfüllen, füttern. Alles im Akkord. Mit Max muss sie noch zum Tierarzt. Die rote Stelle am Unterleib könnte ein Leistenbruch sein. Hörnchen-Päppeln ist nichts für ein paar Tage. Jacqueline Gräfe hat ihre Berufung gefunden, bekommt dafür Zuneigung von den kleinen Nagern.

Ungeduldig wartet Emilio in seiner Voliere auf Zuspruch. Seine beiden Mitbewohner halten Siesta. Er ist der Quirligste hier, hüpft Jacqueline Gräfe auf den Kopf. Eine Katze hat ihn verletzt. Bald darf auch er im Garten das erste Mal in die Natur, noch geschützt. Die enge Nähe brauchen die Hörnchen nur ein paar Wochen. „Es sind Wildtiere, die ihren Instinkten folgen.“ Vergessen werden sie Jacqueline Gräfe wohl nicht. Ab und zu tauchen sie dann in den Wipfeln über ihr auf. Um Mama zu sehen.

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