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Ein Heim, viele Schicksale

Seit 25 Jahren finden Kinder in Dorfhain ein Zuhause auf Zeit. Das Kinderheim ist Ort der Zuflucht und Chance zugleich.

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© Karl-Ludwig Oberthür

Von Verena Schulenburg

Dorfhain. Es ist still im Haus, ungewöhnlich still. Durch die Gänge der ehemaligen Fabrikantenvilla am Tharandter Wald hallen erst am Nachmittag wieder die Stimmen der Kinder, die hier wohnen. Dann kommen sie aus der Kita oder Schule zurück, zurück in ihr Zuhause auf Zeit.

Seit 25 Jahren betreibt das Deutsche Rote Kreuz (DRK) in Freital das Kinderheim in Dorfhain, auf einer Anhöhe gelegen, mit Blick über die Dächer des kleinen Ortes. Das stolze Jubiläum soll im Sommer gefeiert werden. 19 Kinder und Jugendliche leben zurzeit hier. Es sind Minderjährige, die es bisher nicht einfach hatten in ihrem Leben. Die Kinder kommen aus schwierigen familiären Verhältnissen, deren Eltern oft mit der Erziehung überfordert sind, zum Teil auch mit ihrem eigenen Leben. „Jedes Kind hier trägt ein Schicksal bei sich“, erzählt Sybille Clemens. Die 55-Jährige leitet seit knapp neun Jahren das Dorfhainer Kinderheim. Sie kennt die Sorgen ihrer Schützlinge und die Probleme, die sie nach Dorfhain führen.

So wie der Jüngste hier. Der Junge wird im April zwei Jahre alt. Es ist ein neugieriges und aufgewecktes Kind. Dennoch hat der Kleine in der kurzen Zeit, die er auf der Welt ist, mehr durchgemacht, als sich mancher vorzustellen vermag. Er sei ein typisches Crystal-Kind, sagt Clemens. Seine Mutter hat während der Schwangerschaft Drogen genommen. Vier Tage nach der Geburt wurde der Junge positiv getestet. Da seine Eltern unfähig waren, sich um ihn zu kümmern, kam der Kleine zu Pflegeeltern und schließlich in die Einrichtung nach Dorfhain. Seine Mutter sitzt derzeit in Haft. Der Vater hat kein Interesse an seinem Sohn. Neben der körperlichen Belastung durch den Drogenkonsum seiner Mutter hat durch ständig wechselnde Bezugspersonen auch die Seele des Jungen gelitten. Das Schicksal des Kleinkindes zeigt sich bereits an Entwicklungsstörungen.

Solche Defizite seien typisch für Kinder, die aus zerrütteten Elternhäusern kommen, erklärt die Heimleiterin. Deshalb gehören zum Personal auch eine Psycho- und eine Ergotherapeutin. Viele Kinder hätten Probleme mit der Grob- und Feinmotorik, Gleichgewichtsstörungen oder Konzentrationsprobleme. „Der Grundstein wird schon im Kinderwagen gelegt“, sagt sie. Anstatt mit dem Kind zu kommunizieren, tippen Mütter beim Spazierengehen auf dem Handy. Ein Baby, das von seiner Mutter keine Beachtung findet, würde irgendwann abschalten. Es ist nur eine Situation von vielen, die fehlsteuern kann.

Für die Kinder, die in der Dorfhainer Einrichtung leben, sind die Konflikte mit ihren Eltern zu groß geworden. Das Miteinander funktioniert nicht, warum auch immer. In der alten Villa erfahren die Kinder Strukturen, finden Vertrauen und im besten Fall eine Perspektive. Dennoch kann hier niemand die Eltern ersetzen. Das Ziel ist, die Familien wieder zusammenzuführen – eine schwierige Aufgabe. „Viele Erfolge habe ich leider noch nicht erlebt“, resümiert Sybille Clemens. Eine schnelle Integration gebe es nicht. Um familiäre Probleme zu lösen, brauche es Zeit. Nicht nur die Kinder müssen an sich und ihrem Verhalten arbeiten, auch deren Eltern. Erfolgsgeschichten sind selten, aber es gibt sie.

Wesentlich häufiger wird dagegen die Hilfe im Kinderheim gesucht. Es ist eine eher denkwürdige Entwicklung, die Sybille Clemens beobachtet. Es betreffe zunehmend recht kleine Kinder, auch der Drogenproblematik geschuldet. Viele Eltern hätten auch keine Erziehungskompetenzen. Sie schlagen sich selbst mit Unzufriedenheit, Arbeitslosigkeit oder Perspektivlosigkeit herum. Hinzu komme der Medienkonsum durch Fernsehen, Computerspiele, Handys. Der Alltag kann überfordern, erst recht mit Kind. In solchen Situationen brauche es einen Rückhalt, erklärt die Freitalerin. So, wie es ihn einst in Großfamilien gab, als alle unter einem Dach wohnten. Diese Gemeinschaft sei größtenteils verlorengegangen und damit auch der Rückhalt in der Familie, den auch Eltern brauchen.

Den Kindern Halt geben, Lebensmut und Selbstbewusstsein vermitteln, daran arbeiten die Pädagogen im Kinderheim. In der Abgeschiedenheit des Tharandter Waldes leben die Jungen und Mädchen in zwei familienähnlichen Wohngruppen. Hier können sie emotionalen Stress abbauen. Einen Spielplatz, ein kleines Beet, sogar einen Pool gibt es im Gelände. Die Idylle passt. Und dennoch sieht sich das Heimpersonal vor ständig neuen Herausforderungen.

Das Geld ist praktisch immer knapp, trotz Sponsoren und Unterstützer. Jedes Jahr wird der Etat mit dem Landkreis neu verhandelt. Es wird gespart, wo es geht. Dennoch reicht es manchmal nicht, um die Heimkinder mit auf die Klassenfahrt ihrer Mitschüler zu schicken oder sie in irgendeinem Verein aktiv werden zu lassen. Hinzu kommt der Mangel an Fachkräften. Es werden stets Erzieher gesucht. „Nicht jeder ist für den Job hier geschaffen“, weiß Sybille Clemens. Schichtdienst ist an der Tagesordnung, dazu eine hohe soziale Verantwortung und die Fähigkeit, Konflikte auszuhalten und Probleme nicht mit nach Hause zu nehmen. Die Arbeit sei Berufung. „Wir können nicht die Welt retten, sondern hier jeden Tag nur unser Bestes geben“, sagt Clemens. Die Kinder vertrauen darauf.