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„Ein genialer Denker“

Manfred Wießner wird heute 90 Jahre. Der ehemalige Waggonbauer hat die Schienenfahrzeugtechnik vorangetrieben.

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© nikolaischmidt.de

Von Anja Gail

Im Garten in Emmerichswalde, am nahen Fischteich und im Wald hält er sich besonders gern auf. Solange es sein Befinden zulässt, baut Prof. Manfred Wießner Bewegung in der Natur in seinen Tagesablauf ein. „Ich habe ja viel Zeit“, sagt er. Vielmehr schätzt er jedoch die Ruhe, die er dort findet. Sie gleicht aus, was der Senior an Gedankenarbeit leistet.

Heute feiert der international angesehene Ingenieur und Wissenschaftler seinen 90. Geburtstag. Nur im Kreis seiner Familie, mit Freunden und engen Bekannten. Trotz seines hohen Alters hält er Vorträge über den Schienenfahrzeugbau und folgt regelmäßig Einladungen zu verschiedenen Fachtagungen. Dorthin begleitet ihn oft ein Bekannter, dessen berufliche Wege auch die seinen kreuzten und die eng mit dem Görlitzer Waggonbau verbunden waren. „Bei den Vorträgen lebe ich aber längst vom Speck“, erklärt er. Intensive Vorbereitungen dafür betreibe er nicht mehr.

Das Haus mit großem Garten in Emmerichswalde, wo er bereits einen Teil seiner Kindheit verbracht hat, rangiert als Lebensmittelpunkt. Das war nicht immer so. Spätestens seine Aufgaben außerhalb des Waggonbaus bescherten ihm ein ausgefülltes Arbeitspensum weit weg von Görlitz. Das ließ keine Zeit für einen Familienalltag und ein Grundstück mitten auf dem Land.

Prof. Wießner war mehrere Jahre für die zentrale Projektierungsstelle für Reisezugwagen in der DDR verantwortlich und Hauptkonstrukteur in dieser Branche. Er forschte an der Technik von Schnelltriebzügen, projektierte moderne Reisezugwagen, entwickelte spezielle Bauweisen und Ausstattungen für Fernzüge. Das alles liegt ein halbes Jahrhundert zurück. 1966 übernahm er die Leitung des Instituts für Schienenfahrzeuge in Berlin. Dadurch kannte er so gut wie jeden Betrieb in der Branche in der gesamten DDR. Er war gefragt bei Verhandlungen im Ausland, vor allem mit schwierigen Gesprächspartnern am Tisch. „Die bestanden durchaus auf seiner Person“, erzählt ein ehemaliger Kollege. In den letzten 15 Jahren bis zu seinem Ruhestand forschte und lehrte er an der Hochschule für Verkehrswesen in Dresden. Dort leitete er auch den Lehrstuhl Schienenfahrzeugtechnik, war Dekan der Fakultät und Mitglied im Senat der Hochschule.

Eine glückliche Fügung

„So, wie ich heute lebe, mit beiden Töchtern und den Schwiegersöhnen auf einem Grundstück, so habe ich mir das trotz meines Arbeitsalltags immer vorgestellt“, sagt er. Die drei Enkel sind längst erwachsen und haben die Familie um fünf Urenkel reicher gemacht. Ein anderer Wunsch des Professors hat sich nur für eine kurze Zeit erfüllt. Mit seiner Frau wollte er den Ruhestand nach 1992 zu Hause gemütlich verbringen. Das war dem Ehepaar nur wenige Jahre bis zum Tod seiner Frau vergönnt. Sie habe ihm in den Jahrzehnten davor immer den Rücken freigehalten, die Töchter großgezogen, das Grundstück und das Haus bewirtschaftet, erzählt Manfred Wießner. Währenddessen habe er die Familie vernachlässigt, weil er in allen Teilen der Republik und weit über die DDR hinaus unterwegs war. Ohne diese klare Teilung der Aufgaben wäre das Lebenskonzept aber nicht aufgegangen. Seine Frau habe das so akzeptiert. Eine glückliche Fügung.

Aufgewachsen ist Manfred Wießner in Ober Neundorf und bei Kunnersdorf. Die Familie lebte schon immer am nördlichen Rand von Görlitz. 1938 konnte sein Vater das Grundstück in Emmerichswalde kaufen. Eine schwere Zeit der Arbeitslosigkeit lag damals hinter der Familie. Er wollte besser leben als seine Vorfahren, sagt Manfred Wießner. Das habe ihn sehr geprägt.

Das Lernen fiel ihm sehr leicht. Schnell war er Klassenbester. Acht Jahre in der Volksschule, zuletzt in Groß Krauscha – mit diesem Abschluss in der Tasche endete die Schulzeit. Sein Direktor und Lehrer muss schon damals erkannt haben, dass dieser Junge aus einfachen Verhältnissen ein tiefes Verständnis mathematischer und physikalischer Zusammenhänge anwenden konnte. Er besorgte ihm eine Lehre zum Schlosser in Junkers Flugzeug- und Motorenwerken in Magdeburg.

Als der 17-Jährige nach Kriegsende heimkam, war der Vater gefallen und die Zahl arbeitsfähiger ausgebildeter Männer klein. Das Kalkwerk in Ludwigsdorf nahm ihn mit Freude als Reparaturschlosser. Weil er keine Höhenangst verspürte, führte der junge Schlosser die Kranreparaturen aus. Im Kalkwerk sprach ihn eines Tages ein Gewerkschafter an: „Willst Du nicht studieren?“ Sein Ziel von einem besseren Leben vor Augen, mit Neugierde und Wissensdurst ausgestattet, legte er seine ganze Beharrlichkeit und seinen Ehrgeiz an den Tag. Das Abitur bekam er nach zwei Jahren an der Arbeiter- und Bauernfakultät.

Danach studierte er in Dresden Fördertechnik. Inzwischen lebte er schon mit Frau und Kind. Deshalb bemühte er sich nach dem Studium um eine Stelle im Görlitzer Waggonbau. „Ein Auto hatte damals kaum jemand“, erzählt er. Aber der Zug hielt ja unweit von Emmerichswalde und in Görlitz. Schon nach wenigen Jahren war der junge Ingenieur, der als Konstrukteur angefangen hatte, technischer Direktor im Waggonbau geworden. Diplomingenieure habe es damals kaum gegeben, sagt er. Sein Bekannter aus Görlitz, der ihn bis heute zu den Fachtagungen begleitet, sieht dafür andere Gründe. Der Professor sei ein genialer Denker, der ein Problem vom Ursprung her angehe und dabei immer die Praxis im Blick behalte. „Er wird sich selbst damit aber kaum in den Vordergrund stellen.“ Viele Mitarbeiter hätten immer auch seine Besonnenheit geschätzt und das Gefühl, einen Chef zu haben, der sich hinter sie stellt, trotz aller komplizierter Situationen, die es immer auch gab.

Großer Anteil am „Vindebona“

In seiner Zeit im Görlitzer Waggonbau hat er maßgeblich die ersten Doppelstockwagen mit entwickelt. Auch eine hochwertige Baureihe ging damals in Betrieb: ein dieselhydraulischer Schnelltriebzug. Ab 1963 in Görlitz produziert, verkehrte dieser Fernzug zum Beispiel als „Vindobona“ zwischen Berlin und Wien. Mit diesen Ereignissen und seinen Erlebnissen könnte er längst ein Buch füllen. Die Zeit als einfacher Reparaturschlosser habe ihm dabei genauso viel Freude bereitet und ihn gefordert wie all die Stationen, die später folgten, sagt Manfred Wießner.

Auch seine Wurzeln in Görlitz und im Waggonbau hat er nie außer Acht gelassen und lange nach seiner Pensionierung in verschiedenen Gremien mitgewirkt. Sein Zuhause in Emmerichswalde genießt er seit dem Ruhestand umso mehr. Als Wunsch zu so einem runden Geburtstag wie heute bleibt vor allem der nach möglichst viel Zeit, die die Familie miteinander verbringen kann.