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Ein fliegender Hamburger bestand die Probe

Vor 85 Jahren entwickelte der Waggonbau in Görlitz legendär gewordene Schnelltriebwagen.

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© Werkfoto/Sammlung Theurich

Von Ralph Schermann

Görlitz. Es war der 18. Dezember 1932. Es war ein eiskalter Sonntag, und viele Görlitzer gaben 20 Pfennig für eine Bahnsteigkarte aus. Nur mit einer solchen durfte man damals an die Gleise in der Bahnhofshalle, doch das war es den Schaulustigen wert. Immerhin gab es eine Revolution des Schienenfahrzeugbaus zu bestaunen – erstmals fuhr offiziell ein neuer Schnelltriebwagen, der als „Fliegender Hamburger“ in die Verkehrsgeschichte eingehen sollte.

Wer nahe der Waggonbauhallen der Görlitzer Wumag wohnte, hatte die Entwicklung vielleicht schon mit verfolgen können. Bereits 1931 hatte die Reichsbahn in Görlitz Schnelltriebwagen in Auftrag gegeben, doch die Entwicklung gestaltete sich aufwendig. Immer neue Modelle wurden verworfen, die äußere Gestaltung in Windkanälen aerodynamisch angepasst. Die zwei Maschinenräume erfuhren immer wieder Veränderungen, und akribisch wurden sogar die „Erfrischungsabteile“ oft umgestaltet. Als endlich alles zum Besten stand, war es Ende 1932. An jenem 18. Dezember gab es die letzte Probefahrt über Berlin, Wittenberge und Hamburg, und die Bevölkerung durfte das neue Verkehrsmittel besichtigen. Als der Tag zu Ende war, hatten über 3 000 Görlitzer von diesem Angebot Gebrauch gemacht. Es werden aber wohl Hunderttausende Menschen gewesen sein, die die freie Strecke säumten.

Am 15. Mai 1933 begann der fahrplanmäßige Einsatz des offiziell VT 877 heißenden Gefährts. Zwischen Berlin und Hamburg pendelte der Triebwagen, der somit auch ein bedeutender Vorläufer der heutigen Hochgeschwindigkeitszüge auf dieser wichtigen deutschen Schienenverbindung war. Der „Fliegende Hamburger“ erreichte damals eine durchschnittliche Reisegeschwindigkeit von 125 km/h.

Während der Triebwagen fern der Neiße den Fahrplan erfüllte, hörten die Erbauer immer wieder mit Stolz von vielem Lob, das Fahrgäste und Presse dem „Hamburger“ zuteil werden ließen. Sogar vom „Wunder von Görlitz“ war gelegentlich die Rede. Nach der 1 000. Fahrt waren es bereits mehr als 100 000 Reisende, die den Görlitzer Triebwagen benutzt hatten. Die Reichsbahn zeigte sich angetan und richtete weitere Städteverbindungen ein. Insgesamt 13 der als Bauart Hamburg klassifizierten VT 877 wurden geordert, bei jedem Fahrzeug aber auch gleich Änderungen berücksichtigt, die sich aus dem laufenden Betrieb ergaben. Äußerlich nahmen die Führerstände etwas abgewandelte Formen an. Die Görlitzer Wumag lieferte noch weitere Schnelltriebwagen, zum Beispiel acht Fahrzeuge für den Einsatz im Nahverkehr des Ruhrgebietes. Mit dem Gattungsnamen Stettin wurden 1940/41 noch zwei Serien des schnellen zweiteiligen Triebwagens gebaut, dann endete kriegsbedingt die Entwicklung von Wumag-Triebwagen für die Deutsche Reichsbahn.