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Unter besonderer Beobachtung

Es ist eine Zeremonie mit Beigeschmack und interessanten Signalen. Als Angela Merkel zur Kanzlerin gewählt wird, klatscht erstmals auch ihr Gatte Beifall.

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© Soeren Stache/dpa

Jörg Blank, Georg Ismar und Thomas Lanig

Berlin. Nach Routine ist Angela Merkel auch bei ihrer vierten Wahl zur Kanzlerin ganz offensichtlich nicht zu Mute. Immer wieder dreht sich die CDU-Vorsitzende an diesem für sie historischen Mittwochvormittag im Plenarsaal des Bundestags von ihrem Platz in der ersten Reihe um, schaut nach hinten. Ihr Blick wandert durch die Reihen der Unionsabgeordneten. Oft sucht sie den Augenkontakt mit ihrer Familie, die rund um ihren Ehemann Joachim Sauer auf der Ehrentribüne in der ersten Reihe sitzt.

Auch eine so erfahrene und oft nüchterne Frau wie Merkel zeigt an diesem Tag Gefühl. Kein Wunder, nach fast sechs Monaten kräftezehrender, quälender Regierungsbildung, bei der das politische Schicksal der als mächtigsten Frau der Welt bekannten Kanzlerin gleich mehrmals auf der Kippe stand.

Zum ersten Mal dabei

Dass ihre vierte Wahl zur Kanzlerin auch für Merkel etwas ganz Besonderes ist, zeigen auch die Gäste, die sie eingeladen hat. Ihr Ehemann Joachim Sauer sitzt beispielsweise zum ersten Mal bei einer ihrer Kanzlerinnen-Wahlen auf der Ehrentribüne - den drei früheren war er fern geblieben. Nun, wo seine Frau wahrscheinlich zum letzten Mal zur Kanzlerin gewählt wird, hat der 68-Jährige sich anders entschieden - und auch seinen Sohn Daniel aus erster Ehe mitgebracht.

Merkels Mutter Herlind Kasner ist ebenfalls wieder gekommen - wie immer, wenn ihre Tochter zur mächtigsten Frau Deutschlands gewählt wird. Die 89-Jährige wird von einem Freund der Familie, dem früheren Bildungsminister von Brandenburg, Roland Resch (Grüne), zum Sitzplatz geleitet. In der Pause, als gerade die Stimmen für Merkel ausgezählt werden, geht sie einen Schluck Wasser zur Erfrischung trinken. „Damit wir für gleich fit sind“, sagt Herlind Kasner. Und fragt Resch neugierig: „Zählen die eigentlich per Hand aus?“

Unter Merkels Ehrengästen ist auch ihr Schwager Sven Kasner, der Ehemann von Merkels Schwester Irene. Merkels Schwester selbst ist verhindert. Natürlich sind auch Regierungssprecher Steffen Seibert, Merkels Büroleiterin Beate Baumann sowie ihre Medienberaterin und Vertraute Eva Christiansen gekommen.

Um 9.24 Uhr stellt sich Merkel kurz zu ihrem Herausforderer bei der Bundestagswahl im vergangenen Jahr, Martin Schulz. Er ist gerade zur Stimmabgabe aufgerufen worden. Schulz lächelt Merkel an, legt kurz die linke Hand auf ihren Rücken, sie zeigt auch ihm ihre Familie oben auf der Tribüne. Die Szene wirkt fast vertraut - obwohl Schulz die Kanzlerin im Wahlkampf so verbissen bekämpft hat und zuletzt im Finale der Koalitionsverhandlungen mehr als 24 Stunden so erbittert mit ihr um Ministerien und Posten gerungen hat.

Schulz, der diese dritte große Koalition Merkels noch als SPD-Chef mit zusammengezimmert hat, dann aber wegen internem Widerstand zurücktrat und auch auf das Amt des Außenministers verzichtete, ist nach einer schweren Grippe erstmals zurück im Bundestag.

Joachim Sauer hat zu dieser Zeit seinen Laptop aufgeklappt und vertreibt sich seine Zeit am Computer. Ob er die Pause bis zur Verkündung des Ergebnisses für seine Frau wohl für wissenschaftliche Arbeit nutzt? Später plaudert er mit Charlotte Knobloch, der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, den Laptop immer noch auf den Knien.

„Ich sage wie immer nichts“

Als seine Frau gerade wiedergewählt ist, trifft Professor Sauer auf den früheren Bundestagspräsidenten Norbert Lammert. Dieser klopft ihm auf die Schulter und sagt: „Alles Gute“ und gratuliert. Auf die Reporterfrage, ob er die Wahl seiner Ehefrau kommentieren wolle, meint Sauer nur trocken: „Ich sage wie immer nichts.“

Unten im Saal haben sich schon vor der Sitzungseröffnung durch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble um 9.00 Uhr bemerkenswerte Szenen abgespielt. Merkel, die im cremefarbenen Blazer mit schwarzer Hose erschienen ist, amüsiert sich sichtlich gut in einer kleinen Frauenrunde mit ihrer alten und neuen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) sowie Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt und Ex-Grünen-Chefin Claudia Roth. Auch Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki von der FDP bekommt ein Lächeln geschenkt.

Nach dem Zählappell bei der SPD am Morgen vor der Sitzung hatten einige Sozialdemokratinnen schon im Aufzug hinunter zum Plenarsaal getuschelt, die neue CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer habe ja ein komplett grünes Kleid an. Merkel habe am Vortag auch etwas Grünes getragen, bemerkt eine andere SPD-Abgeordnete - was das wohl bedeute? Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Kanzlerin auch gerne mit den Grünen regiert hätte.

Als man beim Namensaufruf zur Wahl gerade beim Buchstaben H ist, kommt Merkels Ex-Außenminister und Vizekanzler Sigmar Gabriel dazu. Sie gibt ihm die Hand, beide wechseln ein paar Worte. Die Kanzlerin weist auch bei ihm mit der Hand nach hinten, dort, wo ihre Familie auf der Tribüne der Ehrengäste sitzt.

Der kommissarische SPD-Chef Olaf Scholz, Merkels neuer Vizekanzler, lässt sich derweil auf der Tribüne von Franziska Giffey (Familie, SPD), Julia Klöckner (Agrar, CDU) und Svenja Schulze (Umwelt, SPD) in die Mitte nehmen. Alle drei Frauen sind in sattblauen Kostümen gekommen, Arm in Arm mit Scholz stehen sie da. Etwas ungeduldig nestelt Scholz an seiner Krawatte, auf seinem Platz hält es ihn nicht. Lieber redet er länger und sehr ersthaft mit Kramp-Karrenbauer, der neuen CDU-Parteimanagerin.

Das Signal der Stimmverweigerer

Als Schäuble dann um 9.52 Uhr das Ergebnis für Merkel verkündet, macht sich Ernüchterung breit. 364 Abgeordnete haben für Merkel gestimmt - das sind 35 weniger, als Union und SPD eigentlich gemeinsam haben, nämlich 399. Wie viele Abgeordnete der Koalition letztlich tatsächlich nicht für Merkel gestimmt haben, dürfte im Dunkeln bleiben: Die Wahl war geheim. Bei der Union, die über 246 Sitze im Parlament verfügt, fehlte ein Abgeordneter wegen einer Lungenentzündung, die 153 SPD-Abgeordneten waren alle anwesend.

Trotz der ziemlich großen Zahl fehlender Stimmen für Merkel spricht man in der Union von einem „ganz vernünftigen Ergebnis“, vor allem angesichts der schwierigen Regierungsbildung. Doch natürlich ist es nach den schweren Verlusten der Union bei der Wahl und der internen Kritik an Merkels Wahlkampf ein Signal, wenn dutzende Abgeordnete aus den eigenen Reihen der Kanzlerin die Stimme verweigern.

Merkel bleibt zunächst sitzen und nickt einmal auf ihre typische Art heftig mit dem Kopf, als Schäuble die Zahl der Ja-Stimmen nennt. Ich habe verstanden, könnte das heißen. Die Unionsfraktion steht geschlossen auf und applaudiert, nicht euphorisch, aber auch nicht kurz. Bei der SPD bleiben sie sitzen, viele klatschen, darunter der unterlegene Schulz, aber längst nicht alle Sozialdemokraten applaudieren.

Als Erster überreicht dann Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) der Kanzlerin einen Blumenstrauß, kurz darauf gratuliert kurz auch SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles. Länger bei Merkel bleiben Göring-Eckardt und FDP-Chef Christian Lindner stehen. Mit beiden hätte Merkel nach der Bundestagswahl gerne die erste Jamaika-Koalition im Bund geschmiedet - doch nach wochenlangen Sondierungen hatte Lindner die Verhandlungen platzen lassen.

Irgendwann später reihen sich auch die AfD-Fraktionsvorsitzenden Alexander Gauland und Alice Weidel in die Reihe der Gratulanten ein. Fast ohne Blickkontakt reichen sie der Kanzlerin die Hand. Frauke Petry, die mittlerweile fraktionslose frühere AfD-Chefin, schenkt Merkel ein Buch. Die Kanzlerin kann das als vergiftetes Geschenk werten: Es ist das Buch „Höhenrausch - die wirklichkeitsleere Welt der Politiker“ des Journalisten Jürgen Leinemann. (dpa)