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Ein Arzt nach dem anderen

Es ist nicht die erste Arztstelle, die wegfällt.

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Von Katja Schlenker

Kodersdorf. Die Schlange ist lang. Bereits eine Stunde vor Beginn der Sprechstunde stehen die ersten Patienten vor der Tür. Momentan mehr denn je. Denn Allgemeinmediziner Dietmar Baier schließt seine Praxis in Kodersdorf zum 1. April. Viele Patienten kommen noch einmal, um sich ein Rezept zu holen oder sich durchchecken zu lassen. Zwischen 800 und 900 Patienten hat der 72-Jährige. Sie müssen sich nun einen anderen Hausarzt suchen. Denn einen Nachfolger für die Praxis an der Schulstraße gibt es vorerst nicht, wie Dietmar Baier sagt.

Interessenten hat es gegeben. Mehrere sogar. Doch sie sind alle abgesprungen. Zum 1. April wird die Praxis nun erst einmal geschlossen. Später dann irgendwann ausgeräumt. Das Haus, in dem die Räume sind, gehört Familie Baier. Sie denken darüber nach, das Gebäude zu verkaufen. Sie selbst leben in Niesky. Die Gemeinde will die Arztstelle unbedingt erhalten. Und im Grunde auch die Praxis. „Es wäre problematisch, wieder eine Praxis heranzuzaubern“, sagt Bürgermeister René Schöne (CDU) in der jüngsten Sitzung des Gemeinderats. „Das ehemalige Ärztehaus ist belegt und müsste umfangreich saniert werden.“ Eine Immobilie in Kodersdorf zu finden, wäre schwierig. Auch das Equipment für eine gut ausgestattete Arztpraxis ist teuer. Vor allem, wenn ein junger Mediziner sich zum ersten Mal mit einer eigenen Praxis in einem Ort niederlässt.

Trotz aller Bemühungen wird es wohl nicht gelingen, die Arztstelle in nächster Zeit wieder zu besetzen. „Wir werden es aber trotzdem versuchen“, sagt René Schöne. Gespräche mit dem Görlitzer Landratsamt und der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen gibt es deswegen. Letztere koordiniert die Arztstellen im Freistaat. Folglich auch jene in und rund um Niesky. „Durch die Schließung der Kodersdorfer Praxis wird es sich erst einmal nicht vermeiden lassen, dass weitere Wege zum Hausarzt zurückgelegt werden müssen“, erklärt Geschäftsführer Michael Rabe. „Wir als Kassenärztliche Vereinigung bemühen uns weiter auch um ein Sprechstundenangebot vor Ort.“ Mit Lutz Diedtemann gibt es einen weiteren Allgemeinmediziner in der Gemeinde. Er kann aber nicht alle Patienten von Dietmar Baier aufnehmen.

Es ist nicht die erste Arztstelle, die wegfällt. Im Sommer 2013 musste Allgemeinmedizinerin Elke Reichert ihre Praxis in Nieder Seifersdorf schließen. Sie war selbst krank und starb kurze Zeit später. In den Monaten zuvor halfen andere Ärzte aus, sprangen für die kranke Medizinerin ein. Auch für diese Praxis wurde kein Nachfolger gefunden. Daher fiel die Arztstelle nach einer Frist weg. Bereits dieser Verlust hinterließ eine große Lücke.

Ab dem 1. April müssen Hausärzte im Raum Niesky im Schnitt etwa hundert Patienten mehr versorgen, als bisher. Die Kassenärztliche Vereinigung errechnet einen Wert, der die sogenannte Bedarfsplanung darstellt. Durch die bundesweit verbindliche Bedarfsplanung werden Verhältniszahlen von Einwohner pro Hausarzt vorgegeben. Dabei wird auch die Demografie berücksichtigt. Demnach sind im Raum Niesky derzeit 17,5 Hausarztstellen besetzt. Bei 27 518 Einwohnern als Grundlage versorgt aktuell jeder Hausarzt 1 573 Einwohner. Der Durchschnitt sollte bei 1 560 liegen. Wenn Dietmar Baier seine Praxis schließt, steigt die Zahl der zu versorgenden Einwohner pro Hausarzt auf 1 663.

Vor fünf Jahren hat die Situation ähnlich ausgesehen. Damals ist die Arztstelle in Waldhufen noch besetzt. Folglich werden 18,5 Hausarztstellen im Raum Niesky gezählt. Wenn 29 352 Einwohner als Berechnungsgrundlage dienen, werden damals 1 587 Einwohner pro Hausarzt versorgt. Nicht berücksichtigt bei der Statistik ist das Alter der Ärzte und der Patienten. Bei denen können mit steigendem Alter zunehmend Hausbesuche notwendig sein. Die kosten mehr Zeit. Zudem erreichen immer mehr Ärzte das Rentenalter, sodass immer mehr Stellen wegfallen könnten, wenn keine Nachfolger gefunden werden.

Einmal im Jahr überprüft der Landesausschuss der Ärzte und Krankenkassen im Freistaat Sachsen die Versorgungssituation, erklärt Michael Rabe von der Kassenärztlichen Vereinigung. Dies geschieht zum einen nach Planungsbereichen, zum anderen aber auch nach besonderen lokalen Schwerpunkten. Die drohende Unterversorgung in der Region ist erkannt worden. Daher gibt es seit dem 1. Januar verschiedene Fördermaßnahmen – im Umfang von vier Förderstellen. Davon müssen mindestens drei Praxisübernahmen sein.

Warum es so schwierig ist, neue Ärzte in den Landkreis Görlitz zu holen, können die Ärzte vor Ort nicht nachvollziehen. „Es ist doch ideal hier“, sagt Dietmar Baier. „In der Stadt ist es immer so ein Rumgefahre und Gedränge.“ Hier gebe es alles, was man braucht. Und in Kodersdorf sogar den direkten Anschluss an die Autobahn. Man kann also in Ruhe im Dorf leben und ist dennoch rasch in Dresden oder einer anderen großen Stadt. Zudem: „Das Dorf hat Charme“, sagt Allgemeinmediziner Lutz Diedtemann. „Ich bin lieber hier als in der Stadt.“ Die Welt werde nicht untergehen, wenn die Stelle von Dietmar Baier nicht wieder besetzt werde. Immerhin ist es nicht die erste Arztstelle, die wegfällt. „Wir müssen sehen, wie es weitergeht“, sagt Lutz Diedtemann. „Und vielleicht auch mal nach Polen blicken.“