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Ein Anruf rettet das Glaswerk

Seit mehr als 120 Jahren gibt es Glasindustrie in der Stadt. Dass sie die Wende überstand, ist auch Bernd Hoffmann zu verdanken.

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© Claudia Hübschmann

Von Jürgen Müller

Lommatzsch. Der Anlass erscheint ein feierlicher, ist dennoch ein sehr ernster. Auf den weißen Tischdecken steht Geschirr, es gibt Kaffee und Kuchen. Doch Bernd Hoffmann bezeichnet diesen Tag im Jahre 1991 als einen schmerzhaften Moment in seinem Leben beim unvermeidbaren Abbau von Arbeitsplätzen im ehemaligen VEB. Der Mann, der erst vier Jahre zuvor als Betriebsdirektor des damaligen VEB Glastechnik Lommatzsch eingesetzt wurde, muss allen 28 Mitarbeitern aus der Abteilung Optik mitteilen, dass dieser Bereich geschlossen werden muss. „Ihnen das nur schriftlich zukommen zu lassen, ist nicht mein Stil. Ich wollte es ihnen persönlich mitteilen und ihnen noch einmal selbst für die langjährig geleistete Arbeit danken. Es waren Leute dabei, die haben 40 Jahre und länger in dem Betrieb gearbeitet. Für sie war es sehr bitter, die wussten nicht, wie es weitergehen sollte“, sagt der heute 76-Jährige. Es werden nicht die Einzigen sein, die ihren Arbeitsplatz verlieren. Von einst 215 Beschäftigen bleiben nur 60 übrig.

Eine historische Aufnahme von den Anfängen der Glasproduktion in Lommatzsch. Carl Menzel, der Ehrenbürger von Lommatzsch ist, hatte in der Stadt ein Glaswerk aufgebaut. Dass es heute noch Glasindustrie in Lommatzsch gibt, ist auch Bernd Hoffmann zu verdan
Eine historische Aufnahme von den Anfängen der Glasproduktion in Lommatzsch. Carl Menzel, der Ehrenbürger von Lommatzsch ist, hatte in der Stadt ein Glaswerk aufgebaut. Dass es heute noch Glasindustrie in Lommatzsch gibt, ist auch Bernd Hoffmann zu verdan © privat

Dem Betrieb ging es einst sehr gut. Wer ein Auto, Moped, Lkw oder Kran kaufte, der konnte sicher sein, dass die Spiegel aus Lommatzsch stammten. Die Glastechnik Lommatzsch war Alleinhersteller von Fahrzeugspiegelgläsern in der DDR, die Produktion machte zwei Drittel des Umsatzes aus. „Über Nacht ist dieser Markt komplett zusammengebrochen. Es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder wir erhalten den Betrieb mit bedeutend weniger Personal oder die Firma verschwindet“, sagt Bernd Hoffmann.

Doch die geplante Reprivatisierung im Frühjahr 1991 durch einen international tätigen Glaskonzern scheiterte. Der Konzern hatte wohl den erheblichen Investitionsrückstau erkannt, der Kaufantrag wurde von einem Tag zum anderen zurückgenommen. Die Lage für den Erhalt des Unternehmens war damit äußerst kritisch. Da wagt er einen entscheidenden Versuch. Er greift zum Telefonhörer und ruft Günter Weidemann an. Das ist der Gründer und Geschäftsführer der Schollglas Unternehmensgruppe in Barsinghausen, mit denen die Lommatzscher seit Mitte der 1980er Jahre Geschäftsbeziehungen haben. Eine Woche später sitzt Hoffmann in Barsinghausen.

Weidemann kauft spontan den Betrieb, und das, obwohl er keinerlei Konzept hat. „Ich wusste nicht, was ich mit dem Laden machen sollte. Ich fühlte in diesem Augenblick eine gewisse moralische Verpflichtung“, schreibt er später in einem Buch. Der Treuhandanstalt garantiert er, zehn Millionen Mark zu investieren und 50 Arbeitsplätze in Lommatzsch zu erhalten. Der Glasstandort in Lommatzsch erreicht damit in seiner Geschichte einen bis dahin nie gekannten Umbau.

„Wir hingen am Tropf der Treuhand, die unwirtschaftliche Betriebe schloss. Ohne unsere Beziehungen zu Barsinghausen würde es den Betrieb nicht mehr geben“, ist sich Bernd Hoffmann sicher. Weidemann, der ihn durch seine Erfahrungen mit ihm aus DDR-Zeiten sehr schätzt, setzt ihn nicht nur als Betriebsleiter ein, sondern lässt alle Anlagen abreißen und baut einen neuen Produktionsstandort auf.

Im August 1993 beginnt die neue Produktion von Einscheibensicherheitsglas im Betrieb. Das Bauglasgeschäft entwickelt sich sehr positiv. Auch Krane, Bagger oder Gabelstapler sind mit Sicherheitsglas ausgestattet, die das Werk fertigt. Durch das Anwachsen des Marktes steigt nicht nur die Schichtauslastung, sondern auch die Zahl der Mitarbeiter. Zeitweise sind es 180. Als Hoffmann 2009 in den Ruhestand geht, arbeiten bei Schollglas 170 Männer und Frauen.

Und nicht nur das. In Heynitz entsteht ein völlig neues Veredelungswerk, dass Sicherheitsglas bis sechs Meter Länge herstellen kann. Er wurde in wenigen Monaten aus dem Boden gestampft. Bernd Hoffmann begleitet vom ersten Spatenstich im März bis zur Inbetriebnahme am 12. Dezember 2001 den Bau. In weniger als neun Monaten wurden 18 000 Quadratmeter Produktionsfläche aufgebaut. So wurde die Tradition der Glasverarbeitung unweit von Lommatzsch gefestigt.

Es war Carl Menzel, der 1897 in Lommatzsch ein Glaswerk eröffnete, das im Mundblasverfahren die Produktion von Tafelglas einführte. „Leider hat Menzel, der als sehr sozial galt und zum Beispiel Wohnungen für seine Arbeiter, die sogenannten Glashäuser baute, den Sprung in die maschinelle Glasherstellung verpasst“, sagt Bernd Hoffmann.

Als Rentner hat sich der gelernte Kraftfahrzeugschlosser und Diplom-Ingenieur für Arbeits- und Kraftmaschinenbau mit der Geschichte der Glasverarbeitung in Lommatzsch beschäftigt. Über Jahre hat er eine Chronik zusammengestellt, in zahlreichen Archiven gestöbert, sein über Jahrzehnte erworbenes Fachwissen eingebracht. Beschreibt, dass Menzel 1930 Konkurs anmelden musste. 1938 wurde das Werk verkauft, zuvor Hallen abgerissen, Schornsteine gesprengt. Einige von Menzels zehn Kindern gründeten eigene Glashütten.

Viele ehemalige Mitarbeiter der Firma Carl Menzel & Söhne suchten die Selbstständigkeit und gründeten eigene Unternehmen in Lommatzsch. Eine davon ist die 1972 verstaatlichte Firma Lehmann und Balzer, eine Spiegelbelegerei und Glasmanufaktur. Sie ist praktisch der Vorgänger der heutigen Lommatzscher Schollglas Technik GmbH.

In seinem 206 Seiten umfassenden Buch schreibt Bernd Hoffmann auch über den Aufstieg und das Ende der Glasfabrik Menzel & Söhne, welche die Tradition der Glasherstellung und -verarbeitung in Lommatzsch begründete..

Nachdem er bereits eine Chronik zu 700 Jahre Höfgen, seinem ursprünglichen Wohnort, angefertigt hatte, wollte er nun auch die Geschichte der Lommatzscher Glasindustrie aufschreiben. Seit 2015 arbeitet er daran. „Das ist mein Hobby. Ich verfolge damit keinerlei kommerziellen Zwecke, wollte vielmehr aufzeigen, mit wie viel Fleiß und Mühen schon unsere Vorfahren in Lommatzsch Glas hergestellt und veredelt haben“, sagt der 76-Jährige.

Demnächst wird sein Buch, für das zunächst eine Auflage von 300 Exemplaren geplant ist, in den Druck gehen. Und er macht keinen Hehl daraus, dass das Werk nur dank der Unterstützung von Günter Weidemann, den er nach wie vor seinen „Chef“ nennt, verwirklicht werden konnte. Der heute 84-jährige Weidemann bekam vor zwei Jahren nicht zuletzt wegen seines Engagements in Lommatzsch das Bundesverdienstkreuz verliehen. Mit seiner Chronik hat Bernd Hoffmann nicht nur ihm, sondern allen Glaswerkern ein Denkmal gesetzt. Auch denen, die er bei Kaffee und Kuchen schweren Herzens entlassen musste.