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„Eher so eine Schnapsidee“

Dynamo-Profi Marc Wachs wurde im Dezember bei einem Überfall angeschossen, seine Tante starb. Der erste Verhandlungstag in einem bizarren Mordprozess mit verstörend-schockierenden Details.

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© Robert Michael

Tino Meyer, Wiesbaden

Wiesbaden. Vier Tage vor Weihnachten weiß er sich keinen Ausweg mehr und dann passiert es, einfach so und ohne Vorwarnung. So erzählt es Benjamin G., der mutmaßliche Täter. „Den Plan gab es, aber nicht bei klarem Verstand. Das war keine geplante Aktion“, sagt der 26-Jährige, verschüchtert wirkende Mann auf der Anklagebank des Landgerichts Wiesbaden. Und als er leise bruchstückhaft zu erklären versucht, dass der Überfall auf den Kiosk in der Nachbarschaft „eher so eine Schnapsidee“ gewesen sei, „ein dummer Gedanke, der so passiert“, stöhnt der ältere Herr gegenüber hörbar auf.

Bodo Wagner tritt als Nebenkläger in dem Mordprozess auf. Schwer verletzt und dank einer Notoperation hat der 63-Jährige den Überfall am 20. Dezember 2016 im Wiesbadener Stadtteil Biebrich überlebt genauso wie sein Neffe Marc Wachs, den als Profi von Dynamo Dresden bis dato kaum einer kannte. Wagners Frau aber stirbt – laut Anklageschrift unvermittelt und aus nächster Nähe durch einen Schuss, der die 59-Jährige unterhalb des linken Auges trifft. Noch am Tatort erliegt die Kioskbesitzerin ihren Verletzungen.

„Das ist ein sehr ungewöhnliches Verbrechen aufgrund der Tatvorgehensweise und der Brutalität“, sagt Staatsanwalt Andreas Schneider kurz vor Prozessbeginn im bis auf den letzten Platz gefüllten Gerichtssaal. Das Interesse an der Strafsache mit Aktenzeichen 2KS4434Js44372/16 ist riesig, was auch an dem Dynamo-Fußballer liegen dürfte. Wachs, als weiterer Nebenkläger ebenfalls am Prozess beteiligt, ist an diesem Mittwochmorgen aber gar nicht da.

Er soll verabredungsgemäß am zweiten Verhandlungstag übernächsten Montag angehört werden. Die Schadenersatzforderung, im Amtsdeutsch Adhäsionsantrag, verliest seine Anwältin auf Wunsch des Richters jedoch vorab. Eine Zeugin hat sich verspätet, und diese unfreiwillige Pause soll genutzt werden. Demnach macht Wachs, der nach dem Angriff über einen Monat arbeitsunfähig ist, psychologisch betreut werden muss und erst im März wieder für Dynamo spielen kann, „ein angemessenes Schmerzensfeld von mindestens 25 000 Euro“ geltend.

Von den dramatischen Minuten des Überfalls berichtet dann die bestellte Zeugin, Angestellte im Hörgerätegeschäft direkt neben dem Kiosk. Beide Läden verbindet ein Innenhof. Als sie morgens kurz nach halb neun die Straße entlangkommt, fällt ihr bereits dieser junge Mann auf. Sie denkt sich nichts dabei, hört kurz vor Erreichen des Ladens üben den Innenhof aber Schreie. Aus der Hintertür kommt ihr Wachs entgegen, blutend um Hilfe bittend.

Nach dem ersten Schuss des mutmaßlichen Täters, der Wachs’ Tante tödlich trifft, verletzt der zweite Schuss den Fußballer lebensgefährlich. Das Projektil des Revolvers RG, Kaliber 22, erwischt den 21-Jährigen am Hals und bleibt nahe der Wirbelsäule stecken. Geweint habe er, erzählt die Zeugin, und immer wieder gesagt, dass er nicht sterben wolle. „Ich habe noch nie einen Menschen so erlebt“, sagt sie mit fester Stimme. „Der schießt, der schießt“ habe Wachs gerufen und auch, dass Tante und Onkel, den der dritte Schuss im Rücken trifft, noch nebenan im Kiosk seien.

Benjamin G. hört scheinbar regungslos zu, dem Richter und auch den Zeugen. Hinzuzufügen hat er nichts, gibt er auf Nachfrage des Richters mit einem Kopfschütteln zu verstehen. Wobei die Gestik noch das Verständlichste seiner Aussagen ist. Zum Beispiel wie er seine Hand und dabei den Zeige- und Mittelfinger zu einem Pistolenlauf formt und ein Schussgeräusch von sich gibt, um zu beschreiben, was auch für ihn schwer zu beschreiben ist. „Wie ein schlechter Albtraum“ ist das gewesen, was er konkret kein einziges Mal ausspricht. „Wie ein Traum, den man gestern hatte und sich kaum noch erinnern kann.“

So oder so ähnlich sagt Benjamin G. das immer wieder und zudem, dass es doch nicht seine Art sei, Leute zu bedrohen. Was ihn so früh am Morgen in den Kiosk treibt, weiß er auch nicht mehr so recht. Geld, Zigaretten, Drogen, Nahrung – alles fehlt, als im Suff bei zwei gestohlenen Flaschen Whisky der Impuls kommt. „Eigentlich wollte ich nur ein Päckchen Zigaretten holen – hab ich versucht für mich zu rekonstruieren“, sagt er.

Fast drei Stunden der Verhandlung sind da bereits vergangen und seine Worte auch mithilfe von inzwischen drei auf ihn gerichteten Mikrofonen kaum zu hören. Auffallend sind indes die Widersprüche zur polizeilicher Vernehmung. Immer wieder fordert ihn der Richter milde lächelnd auf, doch bitte mehr Druck in die Stimme zu geben. Und er befragt ihn, wie es überhaupt so weit kommen konnte.

Benjamin G. erzählt von der Kindheit, die er zwischen neuntem und 15. Lebensjahr in verschiedenen Heimen und auch in der Kinder- und Jugendpsychatrie verbracht hat. Überall fällt er auf, auch mit schweren Verhaltensverstößen. Er spricht über seinen Vater, den er erst als Elfjähriger kennenlernt hat, sowie seine Mutter. „Hätte sie mich nur abgetrieben, war einer ihrer Lieblingssprüche“, sagt der mutmaßliche Täter, der sich nur bei den Großeltern geborgen fühlt, mit elf, zwölf Jahren den ersten Alkohol trinkt, ab 15 regelmäßig auch Drogen konsumiert und irgendwann desillusioniert die Schule schmeißt.

Der Täter wohnte mal nahe Dresden

„Eine problematische Kindheit ist niemals Rechtfertigung für eine Straftat“, sagt Wagners Rechtsanwältin Barbara Sauer-Kopic und nennt eine lebenslängliche Haft als zwingend erforderlich bei einem Mord sowie zwei versuchten Morden.

Dass Benjamin G., der später den Schulabschluss nachholt, als 18-Jähriger für ein knappes Jahr in der Nähe von Dresden wohnte, gehört zu den überraschenden Details der Verhandlung. Seine Oma hatte ihm wohl eine Stelle vermittelt, so genau könne er sich aber auch daran nicht erinnern. Dass die Polizei in seiner Wohnung weitere Waffen entdeckt, dazu Einschusslöcher in der Wand sowie Chemikalien, die den Bau von Sprengsätzen möglich machen, verstört dagegen. „Ich bin halt Bastler“, sagt er lapidar.

Ganze 16 Sekunden dauert am Ende der Überfall. „Stark in Schemen sehe ich eine Frau, die steht halt da, und dass jemand zusammensackt“, sagt er. Am Vorabend des Heiligen Abends wird Benjamin G. dann gefasst, hundert Meter von seiner Wohnung entfernt. Die Tatwaffe finden die Kriminalbeamten bei seiner Freundin hinter dem Sofa versteckt – und neu munitioniert.