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Ex-SS-Mann: „Ich schäme mich“

Im Detmolder Auschwitz-Prozess gegen einen Ex-SS-Wachmann des Vernichtungslagers haben bislang viele Überlebende vom Grauen berichtet. Der Angeklagte blieb jedoch stumm. Bis jetzt.

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© Reuters

Florentine Dame

Detmold. Über das, was die Öffentlichkeit an diesem Freitag erfährt, hat Reinhold Hanning sein Leben lang geschwiegen. Weder seiner Frau, seinen Kindern noch Enkeln hat der 94-Jährige nach dem Krieg je berichtet, dass er SS-Wachmann war im Vernichtungslager in Auschwitz, was er dort tat und wie er heute darüber denkt.

Doch an diesem dreizehnten Tag im Prozess vor dem Landgericht Detmold entfaltet der Angeklagte Hanning mit zitternden Händen ein Blatt Papier. Fünf Sätze der Entschuldigung, die er persönlich vorträgt. Dass seine Stimme dabei viel höher klingt als erwartet, fast piepsig, wird der Anspannung geschuldet sein, die er fühlen muss.

Er spricht von Reue und Scham darüber, das Unrecht sehend geschehen lassen und ihm nichts entgegengesetzt zu haben. „Es tut mir aufrichtig leid“, schließt er. In dem Prozess geht es um die Jahre 1943/44, da war Hanning Anfang 20.

Der Anklagevorwurf der Staatsanwaltschaft gegen den Mann aus dem nordrhein-westfälischen Lage wiegt schwer: In seiner Rolle als SS-Wachmann in Auschwitz soll er sich der Beihilfe zum Mord in mindestens 170 000 Fällen schuldig gemacht haben. Der spätere Unterscharführer war auch in dem Vernichtungslager eingesetzt gewesen, als dorthin zügeweise Juden aus Ungarn deportiert wurden, um sie in den Gaskammern zu ermorden. Er bewachte ein System, das darauf ausgelegt war, zu töten, so der Vorwurf der Staatsanwaltschaft - durch gewaltsame Auswahlprozeduren der Kranken und Schwachen, durch Hunger, willkürliche Brutalität, Massenerschießungen und durch tödliches Zellgift in den Gaskammern.

Dass er selbst das Wort ergreifen und nicht nur seine Anwälte reden lassen würde, damit hatte kaum jemand gerechnet. Stumm, oft regungslos und den Blick zu Boden gerichtet, hatte der 94-jährige Greis im Rollstuhl bislang den Prozess verfolgt. Obwohl Überlebende Zeitzeugen ihn mehrfach zur Aussage bringen wollten, schwieg er beharrlich. Er solle die historische Wahrheit erzählen, hatte ihm zum Prozessauftakt der nahezu gleichaltrige KZ-Überlebende Leon Schwarzbaum aus dem Zeugenstand zugerufen.

Gemeinsam mit seinen Verteidigern erarbeitete Reinhold Hanning für den Prozess eine lang erwartete 23-seitige Erklärung, die sein Anwalt vortrug, ehe Hanning selbst sprach.

Die umfangreiche Erklärung zeichnet das Selbstporträt eines SS-Mannes, dem Auschwitz zugestoßen ist. Demnach war es die Stiefmutter, die ihn loswerden wollte und zur SS schickte, damit aus ihm etwas werde. Ein Granatsplitter in der Schläfe war es, der ihn von der Ostfront in den „Innendienst nach Auschwitz“ brachte. Aus Furcht, dass man ansonsten „Schlimmeres zu befürchten hatte“, tat er auch sonst, was man ihm sagte.

Fast immer: Der Mann, den er mit seiner Aussage zeichnet, half auch gelegentlich Häftlingen, schmuggelte zum Beispiel einmal Post für einen Gefangenen aus der Nachbarstadt Bielefeld. Und um Versetzung habe er auch zweimal gebeten, weil er die Kameraden an der Front vermisste. Vergeblich. „Auschwitz war ein Alptraum. Ich wünschte, nie dort gewesen zu sein“, endet der von den Anwälten verlesene Bericht.

Lang war auf diese Aussage gewartet worden. Die Opfer und ihre Vertreter reagierten spontan jedoch eher enttäuscht. Dass er sich geäußert habe, sei anzuerkennen, er habe aber nur eine Zuschauerrolle beschrieben, sagte Christoph Heubner vom Internationalen Auschwitz Komitee: „Er hat gesehen, er hat gewusst, aber er hat nichts gemacht“, beschreibt er den Kern der Aussage Hannings.

Auch Leon Schwarzbaum war mit größeren Hoffnungen an diesem Tag nach Detmold gereist: „Er hat so vieles schöngeredet“, sagte er. Schwarzbaum entging der Todesmaschine Auschwitz, verlor aber 35 Familienmitglieder. „Gibt es dafür eine Entschuldigung?“

Ein Urteil jedenfalls könnte schon bald fallen. Das Gericht hat bislang drei weitere Prozesstage angesetzt. (dpa)