Merken

Dunkelflaute über Deutschland

Der Chef der Energie-Gewerkschaft warnt vor einem übereilten Ausstieg aus der Kohle. Die Folgen wären gravierend.

Teilen
Folgen
© picture alliance / patrick pleul

Von Tilo Berger, Haltern

Langsam senkt sich die Nacht über das Bildungszentrum der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) in Haltern. Von hier sind es nur ein paar Kilometer bis ins Herz des Ruhrgebiets; genau der richtige Ort, um über Energiepolitik zu sprechen. IG BCE-Chef Michael Vassiliadis, geboren 1964 in Essen als Kind griechischer Eltern, schaut zum Fenster. „Dunkel und kaum Wind. Jetzt kann Deutschland wieder froh sein, dass es noch Kohlekraftwerke hat.“ So eine Dunkelflaute habe fast den ganzen Januar über angedauert.

Deutschland brauchte in Spitzenzeiten mehr als 80 Gigawatt Strom, davon konnten die erneuerbaren Energien keine fünf Prozent beisteuern. Die meisten der 27 000 Windkraft- und 1,2 Millionen Solaranlagen fielen wochenlang aus.

Frankreich, das seinem östlichen Nachbarn sonst immer mal mit Atomstrom aushilft, kam als Lieferant auch nicht infrage – einige Kernkraftwerke standen wegen Sicherheitsprüfungen still. „So mussten die deutschen Energieversorger auch noch das letzte Reservekraftwerk ans Netz nehmen. Kohle, Gas und Kernkraft hielten das Land quasi im Alleingang unter Strom.“ Doch genau das werde diesen Energieträgern immer schwerer gemacht, kritisiert Vassiliadis. 2018 schließt die letzte deutsche Steinkohlenzeche im Ruhrpott. Vorhandene Steinkohlekraftwerke werden schon jetzt vorwiegend und dann nur noch mit „schwarzem Gold“ aus dem Ausland gefüttert, vor allem aus Russland und Kolumbien. Bei Gas ist Deutschland ohnehin von Importen abhängig. Bis 2022 gehen auch die letzten deutschen Kernkraftwerke vom Netz. Bleibt als einziger heimischer Energieträger, der nicht vom Wetter abhängig ist, die Braunkohle – doch deren Widersacher nennen fast täglich neue Jahreszahlen für den Ausstieg. „Grob fahrlässig“ nennt Vassiliadis solche Forderungen. „Branchenexperten rechnen bei Strom spätestens Mitte des kommenden Jahrzehnts mit Versorgungsengpässen – mit unkalkulierbaren Folgen für Verbraucher und Unternehmen.“ Die neue Bundesregierung – „wie auch immer sie aussieht“ – werde nach der Wahl im Herbst gegensteuern müssen.

Energiewende mit Augenmaß

Die Gewerkschaft stemme sich nicht gegen die Energiewende in Deutschland, stellt Michael Vassiliadis klar. Aber sie müsse mit Augenmaß gestaltet werden, nicht mit der Brechstange. Der 52-Jährige sieht vor allem dreifach dringenden Handlungsbedarf: Erstens dürften günstige Energieträger wie die Braunkohle nicht vorschnell aufgegeben werden. Zweitens halte das deutsche Stromnetz mit dem Ausbau der Erneuerbaren nicht Schritt. Windparks in der Nordsee etwa liefern jede Menge Strom – aber es fehlen starke Leitungen, um ihn in den industriell starken Süden zu transportieren. Der Gewerkschafter nennt es „ein Armutszeugnis für den Industriestandort Deutschland, dass bislang gerade 111 von 6 100 nötigen Kilometern gebaut worden sind“. Zudem brauche Deutschland mehr und bessere Stromspeicher.

Und drittens müsse der schrittweise Umstieg auf erneuerbare Energien sozial vernünftig vor sich gehen. Vassiliadis rechnet vor: Ein Vier-Personen-Haushalt zahlt heute mehr als 100 Euro im Monat für Strom. Davon beträgt der reine Strompreis nur 45 Prozent, alles andere geht für Steuern, Abgaben und Umlagen drauf. Den größten Posten davon bildet die sogenannte EEG-Umlage, also das Geld, das in den Ausbau erneuerbarer Energien fließt. Das summiert sich mittlerweile auf gut 25 Milliarden Euro im Jahr. „Für Strom mit einem Marktwert von 100 Milliarden Euro sind seit dem Beginn der Energiewende gut 500 Milliarden Euro an Förderung und Verbindlichkeiten angefallen, die die Stromkunden zahlen. Eine halbe Billion Euro!“ Allein die EEG-Umlage habe die Bundesbürger unterm Strich bislang mehr Geld gekostet als alle Subventionen für die deutsche Steinkohle während der vergangenen fast 60 Jahre.

Diese Umlage, moniert SPD-Mitglied Vassiliadis, treffe vor allem sozial Schwache. Sie wohnten meist zur Miete und hätten kaum Einfluss auf ihren Stromverbrauch. Hauseigentümer hingegen könnten sich von der Umlage befreien, indem sie sich eine Solaranlage aufs Dach setzten.

„Alternative“ brauchen Alternativen

„Wir fordern“, fasst der Gewerkschafter zusammen, „dass sich die Regierenden endlich Gedanken über die langfristigen Perspektiven unserer Energieversorgung machen.“ Die „Erneuerbaren“ würden immer abhängig von Wind und Sonne sein – „mit den extremen Leistungsschwankungen, die wir schon kennen. Große Innovationssprünge sind bei diesen Technologien ohnehin nicht mehr zu erwarten.“

Deutschland müsse sich Gedanken über die Alternativen zu den „Alternativen“ machen, sagt Vassiliadis und schaut wieder zum Fenster. Tiefschwarze Nacht. An den Bäumen vor der Laterne regt sich kein Blatt.