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Dresden ohne Klärwerk

Der Kaditzer Klärwerksleiter Gert Bamler erlebte im August 2002 dramatische Tage. Heute ist die Stadtentwässerung viel besser auf Hochwasser vorbereitet.

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© Stadtentwässerung Dresden

Peter Hilbert

Dresden. Seit dem gewaltigen Hochwasser 2002 sind zwar 15 Jahre vergangen. Gert Bamler erinnert sich aber auch heute noch an jeden Tag während dieser wilden Zeit. Schließlich schwankte die Gefühlswelt des Kaditzer Klärwerkschefs damals zwischen Entsetzen, Entschlossenheit, Verzweiflung und Hoffnung - so ging es nicht nur ihm, sondern auch den anderen Mitarbeitern der Dresdner Stadtentwässerung.

Als die Elbe das Klärwerk flutete

Die Elbeflut machte im August 2002 auch vor dem Klärwerk in Kaditz nicht Halt.
Die Elbeflut machte im August 2002 auch vor dem Klärwerk in Kaditz nicht Halt.
Das Areal wurde zur Insel ohne Verbindung zur Außenwelt.
Das Areal wurde zur Insel ohne Verbindung zur Außenwelt.
Der damalige Stadtentwässerungs-Geschäftsführer Johannes Pohl  (l.) und Klärwerksleiter Gert Bamler - hier noch auf dem Trockenen.
Der damalige Stadtentwässerungs-Geschäftsführer Johannes Pohl (l.) und Klärwerksleiter Gert Bamler - hier noch auf dem Trockenen.
Banges Warten an der Elbe: Die Kadittzer Klärwerker an der steigenden Elbe.
Banges Warten an der Elbe: Die Kadittzer Klärwerker an der steigenden Elbe.
Der 16. August 2002 wird zum dramatischsten Tag. Der Druck der Elbe wird so groß, dass das Klärwerksgelände am Nachmittag geflutet wird.
Der 16. August 2002 wird zum dramatischsten Tag. Der Druck der Elbe wird so groß, dass das Klärwerksgelände am Nachmittag geflutet wird.
Nur noch wenige Versprengte halten die Stellung.
Nur noch wenige Versprengte halten die Stellung.
Der tagelange Kampf gegen die Fluten hat nichts gebracht. Die Elbe ist stärker.
Der tagelange Kampf gegen die Fluten hat nichts gebracht. Die Elbe ist stärker.
2013 kommt erneut ein bedrohlich hohes Hochwasser - doch ein technisches Schutzsystem verhindert dieses Mal, dass die Elbe das Klärwerk erneut flutet.
2013 kommt erneut ein bedrohlich hohes Hochwasser - doch ein technisches Schutzsystem verhindert dieses Mal, dass die Elbe das Klärwerk erneut flutet.

Alles beginnt bei einer Paddeltour mit Freunden am Wochenende 10./11. August in der Nähe von Berlin. Der Himmel ist strahlend blau, die Sonne scheint. „Plötzlich kam hinter uns eine fürchterlich schwarze Unwetterfront“, berichtet Bamler. Da gibt es nur noch einen Gedanken: Gas geben, wir müssen runter vom Wasser. Als es geschafft ist, schüttet es wie aus Eimern vom Himmel. Das ist aber nur das Vorspiel.

Dienstag, der 13. August. An dem Tag geht es so richtig los. Gert Bamler, damals 38 Jahre alt, wohnt mit seiner Frau und dem einjährigen Söhnchen an der Tolkewitzer Straße unweit des Wasserwerks. Morgens macht er sich mit dem alten VW-Bulli-Bus, mit dem die Familie gerade von der Paddeltour zurück ist, auf den Weg zur Arbeit. „Da war in der gesamten Stadt der Verkehr zusammengebrochen“, beschreibt er die ungewöhnliche Tour. Die Weißeritzfluten haben sich ihren Weg durch Dresden gebahnt. Am Dynamo-Stadion steht der Große Garten bereits unter Wasser. An der Nossener Brücke ist für Bamler kein Durchkommen mehr. Er muss über verworrene Schleichwege zum Kaditzer Klärwerk fahren. „Vier Stunden habe ich damals bis auf Arbeit gebraucht.“

Die Ereignisse überschlagen sich. Ein Kollege hat gehört, dass die Elbe in Rathen schon bis kurz vor dem Amselfall stehen soll. „Umweltamtsleiter Dr. Korndörfer warnte uns, dass wir uns auf etwas gefasst machen sollen, was noch niemand erlebt hat. Da versuchten wir nur noch zu retten, was zu retten ist“, erzählt Bamler. Mit so einer Situation hat jedoch keiner gerechnet. Als die Elbe immer mehr steigt, sollen der Kaditzer Deich, aber auch neuralgische Punkte, wie die Türen von Schaltwarten und Trafostationen, zusätzlich gesichert werden.

Doch Sandsäcke sind knapp. Also werden blaue Plastik-Müllsäcke mit Sand gefüllt. „Das war völliger Unfug“, weiß der Klärwerkschef heute. „Mit Sandsack-Verbau hatte sich bis dahin bei uns noch keiner beschäftigt.“ Niemand hätte es jedoch ausgehalten, untätig herumzusitzen. Es gibt weder ein Konzept noch einen Plan für so ein Hochwasser. „Vieles hätten wir bleiben lassen können. Es hatte nichts genützt“, sagt Bamler mit dem Wissen von heute.

Doch wie soll es zu Hause weitergehen? Auf der Tolkewitzer Straße könnte es unweit der Elbe schwierig für seine Familie werden. „Mir war klar, dass von mir jetzt 120 Prozent Einsatz auf der Kläranlage gefragt sind.“ Deshalb einigt er sich mit seiner Frau, dass sie sich mit dem Sohn in die S-Bahn setzt und zu ihren Eltern nach Hermsdorf bei Ottendorf-Okrilla fährt. „Zuletzt haben wir noch alle Sicherungen rausgedreht. Da musste ich mir wenigstens keine Gedanken machen, was zu Hause wird“, sagt Bamler. Trotz der immer mehr steigenden Elbe arbeitet das Klärwerk am Mittwoch und Donnerstag noch.

Freitag, der 16. August, wird zum dramatischsten Tag. Der Druck der Elbe wird so groß, dass das Klärwerksgelände am Nachmittag geflutet wird. Immerhin liegt der Pegel bereits bei 9,27 Metern. Damit geht in der Kläranlage nichts mehr. „Wir hatten aber noch die Hoffnung, unsere Haupttrafo- und die Hauptpumpstation retten zu können“, nennt Bamler den nächsten Versuch. Deshalb eilt Elektrowerkstattmeister Olaf Nitschel zur Kontrolle in die Trafostation, hebt eine Bodenplatte aus und schaut in den Kabelkeller. „Da stand das Wasser schon in den Schaltschränken der 20-kV-Anlage“, beschreibt Bamler das Desaster. Jetzt wird es lebensgefährlich. 21.25 Uhr ein Anruf bei der Drewag. Die Station wird abgeschaltet. „Dann kam das ganz bittere Ende.“ Durch den enormen Wasserdruck bahnt sich die Elbe ihren Weg über die Lüftungskanäle und schießt wie ein Wasserfall in das Hauptpumpwerk, das Herzstück der Kläranlage.

Das Kaditzer Klärwerk wird zur Insel ohne Verbindung zur Außenwelt. Nur noch wenige Versprengte halten die Stellung. Ein vierköpfiges Führungsteam um Geschäftsführer Johannes Pohl und sechs Arbeiter. Das Gebiet ist evakuiert. „Wir sind nicht mehr runtergekommen“, berichtet Bamler. Er erinnert sich an gespenstische Szenen, als in dieser Nacht ein Hubschrauber mit Scheinwerfern nach Menschen sucht. Das vierköpfige Führungsteam, zu dem auch noch Ausbauchef Michael Krenz und Laborleiter Norbert Lucke gehören, sucht die letzten Lebensmittelreste und Kerzenstummel. In ihrem Licht sitzen sie beim kärglichen Abendbrot zusammen. „Wir mussten erst einmal den Schock verarbeiten“, sagt Bamler. Der tagelange Kampf, das Schlimmste zu verhindern, hat nichts gebracht. Die Elbe ist stärker. „Das war ein traumatisches Erlebnis“, resümiert der Klärwerkschef. Glück im Unglück: In seinem VW-Bus mit Klappliege hat er zu dieser Zeit die komfortabelste Übernachtung auf der Klärwerksinsel.

Ein Ende, das aber bereits den Anfang in sich birgt. „An dem Abend haben wir schon wieder Pläne geschmiedet, wie es weitergeht.“ Aus dem Krisen- wird kurz danach ein Aufbaustab. Gerechnet wird, dass es Monate dauert, bis die Kläranlage wieder läuft. Doch es geht schneller.

Zumindest einen Lichtblick gibt es für Bamler an diesem Wochenende. Er holt sich ein Dienstfahrrad und schafft es mit seinen Gummistiefeln, einen Weg über die Flutrinnenbrücke Richtung Leipziger Straße zu finden. So strampelt der Klärwerker die knapp 20 Kilometer ins Interimsquartier seiner Familie nach Hermsdorf. Tagelang 16 Stunden auf den Beinen, Bamler muss die traumatischen Erlebnisse erst einmal verarbeiten. Doch am Montag geht es in der Kläranlage weiter. Die Elbe sinkt, morgens steht sie bei neun, am Nachmittag nur noch bei sechs Metern.

Nun geht es schnell ans Beräumen. „Der Hochwasser-Schlamm und der Dreck mussten weg“, nennt Bamler eine wichtige Aufgabe. Die Mitarbeiter warten nicht auf Anweisungen von oben. „Sie packten zu und organisierten, falls nötig, die nächsten Schritte selbst.“ Die Stadtentwässerer greifen zu Schaufeln, Schiebern und Wasserschläuchen.

Im tiefer liegenden Bereich direkt hinter dem Elbdeich hätte zu diesem Zeitpunkt allerdings auch das stärkste Saugfahrzeug noch nichts genutzt. Das Wasser steht nach wie vor sogar höher als in der Elbe. Zum Glück kennen erfahrene Klärwerker ihre Anlage aus dem Effeff. An einem alten Absperrschieber gibt es eine unterirdische Verbindung zur Elbe. Eine entschlossene Aktion bringt die Lösung. Zwei Mitarbeiter schwingen sich ins Boot und rudern zu dem Schieber. Dort steigen sie in die braune Brühe, um an das fast einen Meter große Handrad zu kommen. Die Männer stehen bis an die Achseln im Wasser. Mit einem enormen Einsatz gelingt es ihnen letztlich, den Schieber zu öffnen. Das Wasser fließt zur Elbe ab. Doch nicht nur diese Mitarbeiter, sondern alle anderen zeigen großen Einsatz. „Was für ein Leistungsvermögen von so motivierten Leuten kommen kann, ist eine der tollsten Erfahrungen in meinem bisherigen Berufsleben“, sagt Bamler.

Doch was wird aus dem Klärwerk? Nach dem Untergang soll es schnell wieder funktionieren. Um die biologische Abwasser-Reinigung über den Belebtschlamm zu garantieren, müssen vor allem die Pumpen wieder funktionieren. Zuerst kommt eine Notlösung. Taucher steigen in den Sandfang hinab, installieren unter Wasser Pumpen, die von einem gewaltigen Notstromaggregat angetrieben werden. Am 26. August kann das Abwasser aus dem Dresdner Kanalsystem über eine provisorische Leitung abfließen. Ein erster wichtiger Schritt ist geschafft.

Währenddessen arbeiten die Spezialisten unentwegt an den Anlagen im Hauptpumpwerk. „13 Tage nach der Abschaltung gingen die ersten beiden Schmutzwasserpumpen am 29. August wieder in Betrieb“, erzählt Bamler. Abwasser kann in die Klärbecken gepumpt werden. Die Abwasserbehandlung beginnt. „Das ging viel schneller, als wir gedacht hatten.“

Auch zu Hause nimmt sein Leben wieder normale Formen an. Der Strom wird zugeschaltet. Glück im Unglück: Sein Haus bleibt von der Flut verschont. Nur die Lebensmittel im Kühl- und Gefrierschrank haben die stromlose Zeit nicht überstanden. „Das waren aber glücklicherweise unsere einzigen Schäden“, resümiert er.

Ungewöhnlich sind damals auch die Provisorien, mit denen sich die Klärwerker zu helfen versuchen. „Wenn ich daran denke, bekomme ich mitunter heute noch Gänsehaut.“ Interimslösungen gibt es jedoch nur bis Oktober. Die wichtigsten Anlagen sind nach zwei Monaten wieder zugeschaltet. Allerdings werden nicht nur die Schäden beseitigt. „Schon bei den Reparaturen haben wir uns überlegt, was absolute Schwachpunkte waren“, erinnert sich Bamler.

Die Flut begann am Zu- und Ablauf, den die Elbe überflutete. Benötigt werden Absperrschieber, die das Klärwerk so schützen, dass es nicht geflutet werden kann. Sie werden installiert. Die Stadtentwässerung erarbeitet Hochwasserschutzkonzepte, eins für das Kanalnetz, eines für die Pumpwerke und ein weiteres für das Klärwerk. „Wir haben sie in den folgenden Jahren weitgehend umgesetzt“, erzählt der Abwasser-Spezialist. Ein wichtiger Schutz fehlt allerdings bis heute - ein höherer Elbdeich. Dafür ist die Landestalsperren-Verwaltung (LTV) zuständig.

Bamler hofft, dass die Deichbauer bald kommen werden. Nach 2002 ist es den Stadtentwässerern aber zu riskant, nur darauf zu warten. Nach Abstimmung mit der LTV kauft das Unternehmen ein technisches Schutzsystem, das den Deich zumindest um bis zu einen Dreiviertelmeter erhöht. Alle zwei Jahre wird es aufgebaut. Kurz vor dem Hochwasser findet wieder eine planmäßige Aufbau-Übung statt. Die Anlage steht gerade, da kommt die Juni-Flut 2013. Der Deich hält, das neue Johannstädter Flutpumpwerk entlastet die Kanäle. Zudem richtet die Stadtentwässerung dieses Mal sofort einen Hochwasserstab ein. „Diese und viele weitere Schutzmaßnahmen haben dafür gesorgt, dass wir 2013 mit der vollen Kläranlagen-Kapazität in Betrieb geblieben sind und zuverlässig weiterarbeiten konnten“, so Bamler.

Wären die Hochwasser-Konzepte nicht umgesetzt worden, hätte die Stadtentwässerung noch deutlich größere Schäden als 2002 gehabt. Für die biologischen Reinigungsstufen und die Nachkläranlagen sind seitdem 60 Millionen Euro investiert worden. Doch das Klärwerk blieb dieses Mal verschont. „Es war ein Erfolgserlebnis, dass sich die Konzeptarbeit und die hohen Investitionen schon bei einem Hochwasser amortisiert haben“, schlussfolgert der Klärwerkschef. „So niederschmetternd wie das Hochwasser 2002 war, so schön ist es, dann ein Erfolgserlebnis wie 2013 zu haben.“

Dieser Bericht ist im Buch „Aufgeräumt in Dresdens Unterwelt“ erschienen. Dabei geht es um den mühsamen Weg vom Abwasser-Kollaps zur modernen Stadtentwässerung. Das Buch umfasst 168 Seiten und kostet 14,90 Euro. Erhältlich ist es in allen SZ-Treffpunkten und im Buchhandel. Das Buch kann versandkostenfrei bestellt werden: 0351/48641827 oder www.editionsz.de