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Drei Tage in der NS-Tötungsanstalt

Jugendliche aus ganz Europa besuchen die Gedenkstätte auf dem Pirnaer Sonnenstein. Ein Treffen mit Folgen.

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© Norbert Millauer

Von Mareike Huisinga

Pirna. Still steht Nik Seewald vor dem Schwarz-Weiß-Porträt. Abgebildet ist Walter Lauer. Lauer litt unter Epilepsie – sein Todesurteil in der NS-Zeit. Von Hessen aus wird er am 19. März 1941 in die Landesanstalt Arnsdorf bei Kamenz gebracht. In den Morgenstunden des 28. April ‘41 fahren zwei Busse des Sonnensteiner Transportkommandos in Arnsdorf vor. Unter den deportierten Patienten befindet sich auch Walter Lauer. Vermutlich ahnt er, was ihn in der „Euthanasie“-Anstalt Pirna-Sonnenstein erwartet. Am selben Tag wird er ermordet. Er war gerade einmal 19 Jahre alt.

Nik Seewald ist zwei Jahre jünger. Der Schüler aus Bensheim bei Darmstadt ist einer der Teilnehmer der Internationalen Jugendbegegnung, die in der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein stattfand. „Erschütternd, was in der Nazi-Zeit hier passierte“, lautet Seewalds Urteil.

Zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar lädt der Deutsche Bundestag jährlich junge Erwachsene aus Deutschland und seinen Nachbarländern, vor allem aus Frankreich und Polen, zu einer Gedenkstunde nach Berlin ein. Anlässlich dieser Jugendbegegnung begrüßte die Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein von Montag bis Mittwoch 77 Jugendliche, die sich am historisch-authentischen Ort über die nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen informierten. „Wir fühlten uns schon geehrt, dass wir vom Deutschen Bundestag als Gastgeber ausgewählt worden sind“, sagt Boris Böhm, Leiter der Gedenkstätte.

Nicht nur die Geschichte im Fokus

Er und seine Mitarbeiter boten den Jugendlichen in den drei Tagen ein abwechslungsreiches Programm. Es gab Diskussionsrunden, Quellenarbeiten sowie Führungen über das Gelände und durch die ständige Ausstellung. „Wichtig war es uns, nicht nur über die Geschichte zu informieren, sondern ebenso einen Bogen in die Gegenwart zu schlagen“, erläutert Boris Böhm. So wurde auch angeregt über den aktuellen Umgang mit Menschen mit Behinderung in Arbeitsgruppen diskutiert. Die Teilnehmer übernachteten in der Jugendherberge in Copitz.

Die mehrtägige internationale Jugendbegegnung richtet sich vor allem an Jugendliche, die sich gegen Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus engagieren oder sich in Projekten der Erinnerungsarbeit mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinandersetzen.

Natascha Leleye aus Düsseldorf hat ihr Abitur bereits in der Tasche und absolviert derzeit ein Freiwilliges Soziales Jahr in einer Jugendbegegnungsstätte auf Usedom. Durch das Treffen in Pirna lernt sie Gleichgesinnte kennen, mit denen sie bereits Kontaktdaten ausgetauscht hat. „Vielleicht entstehen durch diese Vernetzung später gemeinsame internationale Aktionen gegen das Vergessen“, überlegt sie laut.

Nik Seewald nickt. Auch er kann sich so etwas gut vorstellen. „Das Thema Euthanasie wurde in der Schule nicht sehr intensiv behandelt. Ich erfahre hier viel über das perfide System“, sagt er. Aber auch persönliche Anregungen nimmt er mit nach Hause. Momentan bereitet er sich auf sein Abitur vor. „Ich könnte mir gut vorstellen, danach ein Freiwilliges Soziales Jahr in einer der Gedenkstätten in Deutschland zu leisten“, sagt der 17-Jährige.

Die Jugendlichen fuhren am Mittwoch nach Berlin, um am 27. an der Gedenkstunde im Bundestag teilzunehmen. Von dort aus treten sie ihre Heimreise an.