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Digitale Revolution kommt aus Dresdner Laboren

Nach der Transformation in die Soziale Marktwirtschaft folgt der Übergang ins vierte industrielle Zeitalter.

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© Karikatur: Mario Lars

Von Nora Miethke

Sachsens Wirtschaft hat den Übergang von der sozialistischen Planwirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft gerade erst bewältigt. Nach Einschätzung des arbeitgebernahen Instituts für Wirtschaftsforschung in Köln ist der Aufbau Ost beendet, auch wenn die Lebensverhältnisse in Ost und West nicht gleich sind. Da steht schon die nächste Transformationsphase an. Die vierte industrielle Revolution, auch als „Industrie 4.0“ bezeichnet, hat begonnen. Sie wird das verarbeitende Gewerbe in Sachsen, aber auch das Handwerk und den Dienstleistungssektor grundlegend verändern. Da sind sich Wissenschaftler, Politiker und Unternehmer einig.

Die Herstellungsprozesse in der Industrie bewegen sich weg von der Massenfertigung hin zur individuellen Produktion. „Jedes designte Produkt wird dann nur ein einziges Mal hergestellt werden“, erklärt Rico Radeke, Wissenschaftler an der TU Dresden, einen Haupttrend. Denn das Grundprinzip von Industrie 4.0 ist, dass physische Objekte wie Autos, Schuhe oder auch Medikamente in das Informationsnetzwerk aus Internet, intelligenten Maschinen und Robotern, Sensoren und Computersystemen integriert werden. Künftig verfügen die Produkte über die Informationen, wie sie gebaut werden sollen – ob der Schuh eine rote oder eine gelbe Schnalle bekommt – und nicht die Fertigungsmaschinen. So können kleinste Serien ab Losgröße 1 hocheffizient hergestellt werden.

Der zweite Haupttrend ist das taktile Internet der Dinge. Es wird im „5G Lab Germany“ an der TU Dresden entwickelt. 5G steht für die fünfte Mobilfunkgeneration, die sich durch eine sehr geringe Reaktionszeit von nur einer Millisekunde auszeichnen soll. Um zu zeigen, für welche Wirtschaftszweige das taktile Internet relevant ist, hat Rico Radeke, der im 5G Lab Germany die Forschungsprojekte mitkoordiniert, zwei Visionen parat. In wenigen Jahren muss der Bauarbeiter nicht mehr schweißtreibend ein Baugerüst selbst aufbauen. Er wird auf dem Boden bleiben und den Bauroboter steuern.Das zweite Beispiel kommt aus der Telemedizin. Wird in der Klinik in Freiberg ein Notfall eingeliefert, kann der Telechirurg in Dresden eine „taktile Brille“ aufsetzen und den Patienten in Freiberg mit einem „taktilen Handschuh“ in Echtzeit operieren.

Das Netzwerk „Silicon Saxony“ sieht für Sachsen große Chancen, von dieser industriellen Revolution zu profitieren. Nicht nur sind die Branchen, die zuerst die vernetzten Produktionsprozesse einführen werden, im Freistaat stark. Dazu gehören der Fahrzeugbau, der Maschinenbau und die Mikroelektronik. Schon jetzt sei in den Dresdner Chipfabriken die Industrie 4.0 weit vorangeschritten, sagt Heinz Esser, Vorstandschef von Silicon Saxony. Wichtiger ist jedoch, dass Sachsen weltweit zum Kompetenzzentrum für den Aufbau des Internets der Dinge werden kann. Die enge Nähe von Chipproduktion, Softwareentwicklung und Netzwerkkompetenz gilt es zu nutzen. Also hat „Silicon Saxony“ eine Arbeitsgruppe gegründet, die derzeit an Pilotprojekten feilt, mit denen die Macher des Internets der Dinge und die künftigen Anwender an einen Tisch gebracht werden sollen. Ziel seien intelligente Musterlösungen, mit denen Sachsen seine Kompetenz als Hochtechnologiestandort sichern kann.

Für das verarbeitende Gewerbe besteht die Chance darin, dass gerade auch Unternehmen mit kleiner Betriebsgröße ihre Produktivität verbessern können.

Die Digitalisierung und Vernetzung der Produktionsprozesse erfordert jedoch erhebliche Investitionen. Die großen Autobauer und Pharmahersteller werden sie tätigen, da ist sich Esser sicher. Skeptisch ist er bei den kleinen und mittelständischen Unternehmen. Doch kaum eine Branche kann sich der Digitalisierung entziehen, die verschiedenste Geschäftsmodelle auf den Kopf stellt. Bestes Beispiel die US-Internetfirma Uber, die Taxifahrern ihre Geschäftsbasis streitig macht. Wenn sich Produkte und Dienstleistungen günstiger herstellen lassen, dann muss man diesen Weg gehen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Das bedeutet Marktwirtschaft.

Auch die Arbeitswelt wird sich massiv ändern. Kurzfristig wird die größere Automatisierung zu Entlassungen von gering qualifizierten Arbeitskräften führen, die einfache und sich wiederholende Tätigkeiten ausüben. Dafür werden auf der anderen Seite neue Arbeitsplätze für Softwareentwickler und Automatisierungsingenieure entstehen. Die sächsische Software- und IT-Industrie will ihre Beschäftigung von rund 23 000 Arbeitsplätzen auf 50 000 in zehn Jahren verdoppeln.

Damit die Transformation des Arbeitsmarktes in die digitale Arbeitswelt gelingt, hat Silicon Saxony in einem Positionspapier einige Forderungen an die Politik gestellt. Vor allem müsse der Software- und IT-Standort Sachsen international besser vermarktet werden. Aber auch die Ausbildung und Entwicklung neuer Berufsbilder muss sich ändern. „Sachsen rühmt sich seiner Stärke in den MINT-Fächern, dann soll sich der Freistaat auch mehr um das I wie Informatik kümmern“, sagte Frank Schönefeld, Geschäftsführer von T-Systems MMS und Vorstandsmitglied von Silicon Saxony. Er fordert, dass Informatik in den Gymnasien gleichberechtigt mit anderen Naturwissenschaften unterrichtet wird sowie eine schnellere Weiterbildung der Lehrer. Auch müsse das zugesagte landeseigene Institut für Softwareforschung aufgebaut werden.

Viel Zeit bleibt nicht. Rico Radeke erwartet, dass zu den Olympischen Spielen 2018 und 2022 in Asien die ersten Dienste des taktilen Internets der Dinge kommerziell angeboten werden. Und Sachsens Wirtschaft wird bis dahin schon eine massive Transformation zur Industrie 4.0 erlebt haben.

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