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„Diese Pfeife bin ich gern“

Heinz-Florian Oertel war Sportreporter und DDR-Fernsehliebling. Am Montag wird er 90. Im Interview spricht er über sein Leben, seine Wünsche und sagt, was er über den Lügenpresse-Vorwurf denkt.

Von Sven Geisler
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© dpa

Die ersten Fragen stellt er – natürlich. Heinz-Florian Oertel ist Reporter aus Leidenschaft. Mit 51, meint er, sei ich „ja auch schon erwachsen“. Und dass ich kein Dresdner, sondern zugezogen bin, macht ihn wohl ein wenig skeptisch. „Von Frankfurt am Main oder Köln?“ Als er Pulsnitz hört, beginnt er zu erzählen. „Die Stadt habe ich auch mal für eine Sendung besucht, die Pfefferkuchenhersteller.“ Ich erzähle ihm, dass auf dem Pfefferkuchenmarkt im November an den Ständen Schlangen stehen wie früher.

„Also die sind noch gut im Rennen, das freut mich.“ Mit einem Treffen in Berlin klappt es jedoch nicht, Oertel gibt nur noch selten Interviews. Schließlich bietet er an, ein Porträt per Telefon zu machen. Wie passend: So hieß die Sendereihe des DDR-Fernsehens, in der er Prominente befragt und vorgestellt hat.

Herr Oertel, wie geht es Ihnen?

Ich muss das jetzt so sagen: In dem Alter hat man dieses und jenes, aber für einen fast 90-Jährigen bin ich ganz gut in Form.

Trifft es denn auch auf Sie zu, dass Rentner niemals Zeit haben?

Anfangs habe ich die Dinge zu locker gesehen und noch sehr viele, vielleicht zu viele Termine wahrgenommen, dem und jenem einen Gefallen getan. Aber in den vergangenen zwei, drei Jahren habe ich das sehr ernsthaft und konsequent eingestellt.

Wie stehen Sie zum Alter?

Ich beziehe das zuerst auf den lebensphilosophischen Hintergrund: Damit habe ich überhaupt kein Problem. Ich weiß, dass ich ein starkes Alter erreicht habe, meine Eltern sind auch jeweils 90 geworden. Also bin ich zufrieden. Wenn ich – toi, toi, toi – ernsthafte körperliche Probleme hätte, würde ich es vielleicht anders beantworten, aber so kann ich sagen: Ich bin bereit, 91, 92, 93 und so weiter zu schaffen.

Sie haben Ihren Enkelsohn Jonathan großgezogen, weil Ihre Tochter Annette vor zehn Jahren mit 44 an Krebs gestorben ist, sein Vater Eberhard Esche schon zwei Jahre zuvor. Wie haben Sie diese Herausforderung gemeistert?

Als diese schwierige Situation eintrat, stürzte vieles auf uns ein. Unser Enkel hat uns sehr viele Aufgaben gegeben, aber auch moralischen Rückhalt. Er ist mittlerweile 19, hat das Abitur mit Bravour bestanden, studiert Musik und Englisch auf Lehramt. Er ist ein großartiger junger Mann und wir sind sehr stolz auf ihn.

Sie wurden in der DDR 17-mal zum Fernsehliebling gewählt. Wie sind Sie damit umgegangen, populär zu sein?

Das bereitete mir überhaupt kein Problem. Im Gegenteil, ich habe mich darüber gefreut. Im ersten Abschnitt meines Lebens war ich am Theater in Cottbus, zwar nur ein Jahr, aber dort habe ich es kennengelernt, mit Publikum umzugehen. Dann arbeitete ich zwei Jahre als Lehrer. Und ich hatte immer mit dem Sport zu tun. Ich war zu Beginn meiner Laufbahn bei Boxveranstaltungen Sprecher am Ring. Und dann gab es eben den Zufall, dass mich 1949 ein Radiosender ansprach, ob ich einen Auftrag übernehmen würde. Das wissen Sie vielleicht …

Ein Feldhandballspiel …

Ja, und zwar Feldhandball der Frauen! Spremberg gegen Luckenwalde. 1:0 das Schlussresultat. Ich sollte die letzten drei, vier Minuten kommentieren. Und weil das irgendwie funktionierte, rutschte ich da rein. Ich habe dieses Handwerk, sagen wir: Mundwerk, von unten bis ziemlich weit nach oben kennengelernt.

War es für Sie schwieriger, nach 1990 aus dem Fokus verschwunden zu sein?

Ach, überhaupt nicht. Ich habe es doch mehr als 40 Jahre lang gemacht. So überraschend, wie ich dazu gekommen war, dann mit voller Kraft dabei, genauso habe ich mich daraus verabschiedet. Ich war über 60, da will man auch nicht mehr jedes Wochenende unterwegs sein. Das Wichtigste in meinem beruflichen Leben war getan.

Sie galten in der DDR als staats- und linientreu, waren auch deshalb nach der Wende nicht mehr gefragt. Wie sind Sie damit umgegangen?

Ich bitte das große Wort zu entschuldigen, aber das verkraftet man, wenn man eine Lebenshaltung hat. Ich habe die Welt kennengelernt durch den Sport, auch die Bundesrepublik Deutschland. Ich war oft dort für Übertragungen, habe auch den 1:0-Sieg der DDR über die BRD bei der Fußball-WM 1974 kommentiert. Ich hatte volle Kenntnis des Geschehens und keine Illusionen.

Einige Ihrer Reportagen sind bis heute Kult wie die zum zweiten Olympiasieg von Waldemar Cierpinski im Marathon 1980 in Moskau: „Nennen Sie Ihre Neuankömmlinge des heutigen Tages Waldemar, Waldemar ist da!“ Wie sind Sie auf solche Ideen gekommen?

Ich könnte es ganz einfach beantworten mit dem volkstümlichen Spruch: Man hat’s oder man hat’s nicht.

Immer dicht dran als Interviewer wie hier bei Axel Peschel nach einer Friedensfahrt-Etappe 1965.
Immer dicht dran als Interviewer wie hier bei Axel Peschel nach einer Friedensfahrt-Etappe 1965. © dpa

Also eine Gabe?

Es hat sich herausgestellt, dass ich ein bestimmtes Talent habe, stärker ausgeprägt als bei anderen. Als ich das begriff, habe ich es selber gefördert durch Training. Ich war in Wald und Heide nicht nur Spaziergänger, sondern habe gesprochen, beschrieben, was ich gesehen habe. Wenn man dazu selber konsequent ist in seiner Lebensführung … Ich habe nie geraucht, nie getrunken. Wenn ich an einem Schnaps roch, war ich schon weg. Meine Freunde sagten, ich sei eine Pfeife. Ich habe geantwortet: Diese Pfeife bin ich gern!

Sie haben sogar im Zug geübt. Wie darf man sich das vorstellen?

Ich musste die früheste Bahn von Cottbus nach Berlin nehmen, die ging um 4.20 Uhr. Deshalb fand ich fast immer ein Abteil für mich allein. Die Schaffner kannten mich schon: Hallo, ah, Sie sind wieder da. Ich habe die Landschaft beschrieben, die Bäume, die Heuschober, die kleinen Dörfchen bis Königs Wusterhausen.

Gab es in Ihrem Reporterleben einen Moment, in dem Sie sprachlos waren?

Nein, eigentlich nicht. Nein, ich muss sagen: Nein!

Sie haben von 17 Olympischen Spielen, acht Fußball-Weltmeisterschaften, vielen internationalen Höhepunkten in der Leichtathletik und im Eiskunstlauf berichtet. Gibt es für Sie einen persönlichen Höhepunkt?

Nicht einen, es sind viele, sehr unterschiedliche. Manchen weiß man im Rückblick erst richtig zu schätzen. Natürlich war meine allererste Reportage etwas ganz Besonderes für mich, aber ohne Bedeutung für die Hörer. Mit den Olympischen Spielen 1952 in Helsinki hatte ich mein erstes größeres Erlebnis und habe dort begriffen, was es bedeutet, als ich Emil Zátopek laufen sah. 5 000-Meter-, 10 000-Meter- und Marathonsieger: Das ist eine einmalige Leistung. Später habe ich ihn und seine Frau Dana auch privat kennengelernt.

Welchen Sportler außer dem tschechischen Läufer bewundern Sie?

Es gibt viele, lassen Sie mich einen herausheben: Cassius Clay, Muhammad Ali. Er war im Sport angesehen, aber wenn er in seiner Heimatstadt Louisville in Kentucky zum Tanzen in die Lokale kam, haben sie ihn rausgeworfen, weil der Zutritt für Schwarze verboten war. Als er zwei Jahre Armeedienst leisten sollte, hat er den verweigert mit den Worten: Ich schieße nicht auf Menschen, mir hat keiner von denen etwas getan. Er nahm es in Kauf, für zwei Jahre gesperrt zu werden. Vor solchen Menschen und solcher Haltung, ziehe ich ganz tief den Hut. Muhammad Ali, was für ein Kerl warst du, bravo!

Viele frühere Sportler haben eine hohe Meinung von Ihnen. Welches Verhältnis hatten Sie zu den Athleten?

Ich habe mich nie über die Athleten gestellt, sie nicht als mein Arbeitsmaterial gesehen. Für mich war der Sport ein dankbares Geschenk: Dass es Menschen gibt, die hohe Leistungen vollbringen und ich das Glück habe, von denen einen Teil – einen relativ großen Teil für mein Leben – kennenzulernen. Das hat mich immer mit großer Dankbarkeit erfüllt. Stinkstiefel gibt es überall, auch im Sport. Aber die Hauptsache ist es zu wissen: Ich brauche den anderen. Im Sport wohnt ein hoher Respekt vor dem anderen.

Journalisten wird heute oft vorgeworfen, sie hätten zu viel Nähe zu den Athleten. Kann ein Sportreporter sowohl begeistert als auch objektiv sein?

Nähe ist doch erst mal etwas Gutes, die habe ich gesucht. Aber es kommt auf die Qualität dieser Nähe an. Ich würde nie einem Sportler zu nahe kommen wollen, ihn nie irgendwo erwischen wollen. Der heutige Journalismus ist von vielen, nicht von allen, darauf angelegt: Da gibt es schon etwas, wir werden schon was finden. Für mich galt als Grundsatz: Der Sportler ist wichtig, erst dann der Journalist.

Wie beurteilen Sie das Niveau der Sportreporter von heute?

Es gibt zu jeder Zeit sone und solche. Aber, und das sage ich voller Überzeugung: Es gibt heute mehr Nieten als damals. Weil es eben mehr gibt und sich logischerweise der Kreis derjenigen vergrößert, die besser eine andere Tätigkeit ausüben sollten.

Woran liegt das?

In dieser Gesellschaft gibt es da und dort Blender, es kommt sehr stark auf Beziehungen an. Natürlich gab es das in einem gewissen Maße auch in der DDR, aber heute ist es gang und gäbe, heute kann sich einer, der an sich nicht gut sprechen kann, als Kommentator behaupten.

Drehen Sie auch manchmal den Ton ab wie Uwe Neuhaus, der Trainer von Dynamo Dresden, es jetzt erzählt hat?

Manchmal mache ich das oder stelle sehr leise. Aber im Prinzip stört es mich nicht. Ich weiß doch und habe das über Jahrzehnte selber erlebt, dass es immer Zuhörer und Zuschauer gibt, die einen nicht mögen und sagen: Heute überträgt wieder diese Pfeife.

In Dresden wird montags bei Pegida-Demonstrationen „Lügenpresse“ skandiert? Steckt der Journalismus in einer Glaubenskrise?

Journalisten können immer in Situationen kommen, in denen sie solch harten Urteilen ausgesetzt sind. Unsere Arbeit ist etwas sehr Öffentliches, das sollten wir nie vergessen, aber wir sind nicht dazu gezwungen worden. Wenn jemand zu mir gesagt hätte, ich sei ein Spinner, ein Lügner, hätte mich das zweifellos wie jeden anderen Kollegen geärgert. Wobei ich auch nicht außer Acht lassen will, dass es unter den Journalisten und denen, die verantwortlich sind, Leute gibt, die es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen.

Als Sportreporter fliegt Heinz-Florian Oertel durch die Welt, berichtet von 17 Olympischen Spielen und acht Fußball-Weltmeisterschaften.
Als Sportreporter fliegt Heinz-Florian Oertel durch die Welt, berichtet von 17 Olympischen Spielen und acht Fußball-Weltmeisterschaften. © DDR-Museum Pirna

Wie stehen Sie zu Fake-News?

Das werden Sie aus meiner Antwort ableiten können, denn ich frage Sie: Was ist das? Ich habe gar kein Internet.

Welche Medien verfolgen Sie denn?

Ich lese täglich ein, zwei Zeitungen und schaue sehr viel Fernsehen, aber nur die aktuellen Sendungen. Außerdem bin ich immer Radiohörer geblieben. Ich war Radio- und Fernsehreporter, aber ich habe viel lieber fürs Radio gearbeitet, denn im Fernsehen nahmen mir die Bilder ja sehr viel weg, was ich als Sprecher im Radio selber beschreiben konnte.

Sie haben nicht nur Sport kommentiert, sondern auch Unterhaltungssendungen konzipiert und moderiert. Sonst, sagten Sie mal, hätten Sie es nicht 40 Jahre durchgehalten. Fanden Sie Sportjournalismus so langweilig?

Nein, überhaupt nicht. Aber doch einseitig. Sport ist etwas ganz Spezielles, er lockt Millionen und Abermillionen in der ganzen Welt an, aber für mich – ich betrachte das nicht als eine Generalfeststellung – wäre es schwierig gewesen, nur Sportreporter zu sein. Deshalb habe ich viele andere Sendungen im Radio und Fernsehen gemacht.

Wobei hatten Sie am meisten Spaß?

Es kommt immer darauf an, nach welchen Kriterien man das beurteilen will. Im Radio waren für mich die Übertragungen von der Friedensfahrt mit prägend. Es waren die ersten fremden Länder, die ich kennenlernte: Tschechoslowakei, Polen. Damals war das politisch heikel für einen Deutschen. Ich war 24, 25 Jahre alt und bin überall gut aufgenommen worden, auch von den ausländischen Kollegen, weil sie wussten: Der kann kein Nazi gewesen sein.

In der Sendereihe „Porträt per Telefon“ im DDR-Fernsehen zwischen 1969 und 1990 haben Sie etwa 250 Persönlichkeiten interviewt. Wer war Ihr schwierigster Gast?

Wissen Sie, das ist sicher ungerecht, aber ich will es einfach sagen: Frauen sind anspruchsvoller, das heißt, mit ihnen war es manchmal schwieriger umzugehen.

Wie feiern Sie Ihr Jubiläum?

Ich werde ein Stück weit weg von Berlin sein mit meiner Frau und unserem Enkelsohn, wir werden in aller Ruhe durch den Wald gehen, etwas essen und nach drei, vier Tagen zurückfahren.

Den großen Bahnhof vermeiden Sie?

Absolut! Ich habe solche Feste nie und nirgendwo groß gefeiert, immer zu Hause im kleinen Kreis und mit Kollegen. Viele sind leider schon gestorben wie Werner Eberhardt, Wolfgang Hempel, Helmut Schulze, Herbert Küttner. Wir anderen treffen uns immer noch jeden Monat einmal und tauschen uns aus. Anfangs waren wir 16, jetzt sind wir – wenn alle kommen – noch acht. Die Zahlen drücken alles aus.

Wofür sind Sie dankbar?

Für alles Erlebte.

Haben Sie mit 90 noch Pläne?

Nein, aber ich habe wie jeder Mensch noch Wünsche. Noch etwas leben mit meiner Frau Hannelore und unserem Enkelsohn, noch etwas vom Sport mitbekommen und möglichst nicht ernsthaft krank zu werden. Ich würde mir wünschen: einen schnellen K. o.