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Die vergessene Olympiasiegerin

Steffi Walter gewann als Rodlerin alle großen Rennen. Nach ihrem Tod kramt ihr Ehemann alte Erinnerungen aus – und kann nicht fassen, dass ihr Ruhm längst verblasst ist.

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© Privatarchiv

Von Michaela Widder

Der Kaffee tropft durch die Maschine. Die Schnittchen sind geschmiert und die Kuchenstücke vom Bäcker angerichtet. Auf dem Couchtisch liegen die Ordner, daneben stapelt sich die Trauerpost. Gernot Walter hat sich auf diesen Tag vorbereitet, er will ja nichts vergessen. Alles, was ihm wichtig erscheint, fasst er später noch einmal in einem Brief auf vier Seiten zusammen. Es geht nicht um ihn, sondern um seine geliebte Frau. Steffi Walter, geborene Martin und einstige Weltklasse-Rodlerin, ist im Juni dieses Jahres verstorben.

Mit 54 Jahren endet ihr Kampf gegen eine schwere Krankheit. Jetzt kämpft ihr Ehemann – gegen das Vergessen und gegen das Gerede in Großdubrau.

Als Rodlerin gewann seine Steffi alle großen Rennen. Ein Jahrzehnt hat sie geprägt wie keine andere, sie gewann 1984 und 1988 Olympiagold – das zweite Mal kurz nach der Geburt ihres ersten Sohnes. Sie wurde 1983 und 1985 Weltmeisterin und 1984 Gesamtweltcupsiegerin. Eine triumphale Schlittenfahrt, deren Spur sich allerdings nach dem Karriereende verliert.

An Weltklasse-Rodlerinnen mangelte es nicht in der DDR, weshalb ihr Rücktritt 1988 für keine Lücke sorgte. Die nächsten drängten längst nach – und sie sich nie jemanden auf. Sie war doch die Bescheidene, die Freundliche, erinnern sich Weggefährten wie der jetzige Rodel-Bundestrainer Norbert Loch. Eine Frau, die sich eher um andere sorgte und sich selbst dabei ein bisschen vergaß.

Wenn es um große Schlittensportlerinnen aus Sachsen geht, um die Aushängeschilder von Oberwiesenthal, dann fallen Namen wie Gabi Kohlisch und Sylke Otto, die als erfolgreichste Rodlerin gilt. „Mir geht es nicht um Statistik-Hascherei“, sagt Gernot Walter, und doch betont er: „Sylke Otto hatte später jährlich die Möglichkeit auf einen großen Sieg. Dazu kamen noch Teamwettbewerbe.“ Als seine Frau aktiv war, fanden Welt- und Europameisterschaften nur im Zweijahres-Rhythmus statt. Vielmehr hätte Steffi Walter also gar nicht gewinnen können.

Und trotzdem waren es die anderen, die später von ihren Karrieren profitierten. Die Liste derer ist lang, die im Sport eine Anstellung fanden wie Norbert Loch, Georg Hackl und Jens Müller beim Verband. Gabi Kohlisch ist leitende Sportlehrerin an der Marineschule in Flensburg, Sylke Otto arbeitet unter anderem fürs Sportinternat in Nürnberg. Und Silke Kraushaar-Pielach ist mittlerweile Laufbahnberaterin am Olympiastützpunkt Thüringen.

Steffi Walter war auch nicht der Typ, nach dem Motto: Hier bin ich. Sie drängte nicht in die Öffentlichkeit, doch ein wenig Anerkennung für ihre Erfolge hätte sie sich schon gewünscht. Zur Heim-WM 2012 in Altenberg war sie nicht einmal eingeladen worden. Und auf der Liste der Ehrengäste bei der Sportlergala in Sachsen stand sie 2013 überhaupt das erste Mal, behauptet Gernot Walter. Aber den traurigen Höhepunkt erlebten sie vor sechs Jahren. Zum Festakt anlässlich der 100-Jahr-Feier des Bob- und Schlittenverbandes in Berlin 2011 waren die erfolgreichen Achtzigerjahre fast komplett untergegangen. „Steffi wurde mit keiner Silbe erwähnt.“ Das hat möglicherweise weniger mit der Zeit zu tun, als damit, dass sie ihre Erfolge für die DDR errungen hatte. Für die Präsentation war der Bayerische Rundfunk verantwortlich.

Sie selbst hätte sich nie beklagt, doch ihr Mann weiß: „Das hat sie innerlich gekränkt.“ Er war es auch, der schon zu Lebzeiten eine öffentliche Bühne für sie suchte. Zu ihrem 50. Geburtstag hat er seine Frau mit einem Artikel in der Sächsischen Zeitung überrascht. „Meine Hilfe für bestimmte Anschübe mochte sie nicht, es war ihr eher peinlich, wenn es von außen Anstöße gab.“ Doch Gernot Walter hat seine Frau verehrt und sah ihr Leben stets zu wenig gewürdigt; jedenfalls von den Verantwortlichen. Vom nationalen und internationalen Verband habe es weder einen Blumengruß noch eine Traueranzeige gegeben, meint er enttäuscht.

Das Grab auf dem Friedhof in Quatitz, einem Vorort von Großdubrau, sei in den ersten Wochen nach der Beerdigung eine Pilgerstätte gewesen, hat ihm der Pfarrer erzählt. Bis zum Totensonntag soll der Grabstein, der einer Rodelbahn nachempfunden ist, fertiggestellt sein. Auch die Orte ihrer beiden größten Erfolgen, Sarajevo und Calgary, sind dann eingraviert. Manchmal stellt Gernot Walter einen Siegerpokal als Blumenvase auf das Grab. Auch darüber wird geredet, es ist ihm egal.

Unzählige Pokale und Medaillen hat seine Steffi gesammelt. Mit gerade mal 21 Jahren wurde sie 1984 das erste Mal Olympiasiegerin. Im selben Jahr hat die Rodlerin aus dem erzgebirgischen Lauter ihren Mann in einem Eiscafé in Dresden kennengelernt, zwei Jahre später heiraten sie und erwarten ihr erstes Kind. Die Schwangerschaft passte – wie so manchmal – nicht in die Planungen der Sportfunktionäre, man traute ihr ein Comeback nicht zu und wollte sie zum Karriereende drängen.

„Nun erst recht!“, sagte sich aber die junge Familie. „Ich habe Steffi den Rücken freigehalten, und das hat ihr Kraft gegeben.“ Nach drei Monaten begann sie wieder mit dem Training in Oberwiesenthal, während Gernot Walter sich um den kleinen Sebastian in Bautzen kümmerte. Der Lehrer ging zur Mütterberatung, wo er der einzige Mann war und nahm die obligatorischen Haushaltstage, die für die Frauen vorgesehen waren. „Sebastian sprach auch seine Mutter mit Papaaaa an.“

Von solchen Anekdoten könnte der Familienvater stundenlang erzählen. Wie er seinen Sohn zum Fasching als Rodler verkleidete und mit einem Puppenschlitten und einem Hemd mit einer dicken 1 darauf in die Kinderkrippe brachte. Am Tag darauf gewann die junge Mutter in Calgary ihr zweites Gold. Keiner anderen Rodlerin war das zuvor gelungen. Die Autogrammpost, fast 3 000 Anfragen, beantwortete er später zusammen mit seinen Schülern. „Wir waren doch ein Team“, sagt der pensionierte Mathe- und Physiklehrer.

Nach der Laufbahn studierte Steffi Walter erst Staat und Recht, arbeitete zunächst in der Kreisverwaltung, bekam mit Tochter Sabrina und Nachzügler Simon zwei weitere Kinder. Der Jüngste, 21, wohnt noch zu Hause, der Älteste, 30, lebt in Mockrehna bei Leipzig und die Tochter, 27, in Hamburg. Für die Mutter wurde der Kontakt zum Sport spärlicher. Mit der Ausbildung zur Physiotherapeutin erfüllte sie sich spät einen Traum. Lange konnte sie den Beruf nicht ausüben, die Spätfolgen des Leistungssports bremsten sie immer mehr aus.

Die schweren Schäden an Lenden- und Brustwirbelsäule führten die Ärzte aufs Rodeln zurück. Auch die Handgelenke spielten als Folge vom vielen Kufenschleifen nicht mehr mit. Eine Bandscheiben-OP war notwendig. Danach versuchte sie sich wieder als Physiotherapeutin, doch es ging nicht mehr – mit 45 musste sie ihren Job aufgeben. „Das war der Knackpunkt. Von da an ging es bergab.“

Noch schwerer, vor allem seelisch, wurde es für Steffi Walter, als sie nach drei Jahren um die Fortführung ihrer Erwerbsminderungsrente streiten musste. „Trotz ihres immensen orthopädischen Schadens war sie nach der Begutachtung durch einen Psychiater innerhalb von 45 Minuten für arbeitsfähig erklärt – unfassbar“, schimpft der Witwer. Sie ging in Widerspruch, klagte beim Sozialgericht, der Streitfall zog sich 27 Monate hin – bis die Rente nach- und weitergezahlt wurde. In der Zeit wurde es für die Familie finanziell brenzlig, weil auch Gernot Walter seit 2004 wegen der Gesundheit nicht mehr arbeiten kann. „Um über die Runden zu kommen, verkaufte Steffi ihren Vaterländischen Verdienstorden und alle Ehrenzeichen.“ Ihre Olympiamedaillen aber behielt sie.

Im Herbst vorigen Jahres erlebt die tiefgläubige Familie den nächsten Schock, die dreifache Mutter hat Krebs, ausgelöst durch eine schwere Erbkrankheit, an der bereits ihr Bruder und Vater 1995 innerhalb von zwei Wochen gestorben sind. Dass Gernot Walter jetzt öffentlich darüber spricht, hat einen Grund. „Natürlich hat der Sport viele Krankheiten und Leid hinterlassen, aber gar nichts mit dem frühen Tod zu tun“, meint der 61-Jährige und spielt auf Dopinggerüchte an, die ihm zu Ohren kommen: „Unter vier Augen hat man ihr die Pillen zugeteilt, aber sie hat sie in der Toilette entsorgt. Steffi hatte richtig Angst vor den blauen Dingern.“

Es begann die „Tour de Steff“, wie sie selbst die Leidenszeit kämpferisch nannte. Wo er konnte, unterstützte Gernot Walter seine Frau, pflegte sie und war an ihrer Seite, als sie mit einem Lächeln einschlief. In seiner Trauerrede sagt er später: „Es fiel nicht auf, wenn wir zusammenkamen. Es fiel nur auf, wenn einer alleine kam.“

Allein kämpft er gegen das Vergessen.