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Die verdeckten Ermittler

In Mittelsachsen werden die Wälder kontrolliert, und keiner merkt es. Der DA hat die Experten begleitet.

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© André Braun

Von Maria Fricke

Mittelsachsen. Die Mücken greifen an, kaum dass Arnd Schöndube den lindgrünen Transporter verlassen hat. Er schnallt sich seinen Laptop um, legt das Band des Fernglases um seinen Hals. Kollege Jens Handrick schnappt sich Lord. Der Hund wedelt aufgeregt mit dem Schwanz. Endlich rein in den Wald. Die beiden Mitarbeiter des Sachsenforst gehen ein paar Schritte. „Hier haben wir schon die erste Gruppe“, sagt Schöndube und bleibt unmittelbar am Weg bei Buchen und Lärchen stehen. In dezentem Grün stehen Ziffern auf den Stämmen. Der 47-jährige Forstingenieur und sein Kollege sind am ersten Kontrollpunkt.

Über 280 solcher Stellen gibt es in Sachsens Wäldern. Festgelegt worden sind sie kurz nach der Wende nach einem Raster von vier mal vier Kilometern. Das Modell wurde aus Westdeutschland übernommen. Zu einem Kontrollpunkt gehören jeweils 24 Bäume, mindestens 60 Zentimeter hoch, alle beziffert, zusammengefasst in Sechser-Gruppen. Sie sind nicht nach Schönheit, Art oder Wachstum ausgewählt, sondern zufällig. Eben dort, wo das Raster einen Schnittpunkt auf der Karte gebildet hat. Und die Bäume sind der natürlichen Entwicklung ausgesetzt, werden normal bewirtschaftet, stehen in Konkurrenz zu anderen Bäumen. „Das heißt, die Bäume können auch mal wegkommen“, sagt Arnd Schöndube. Zum Beispiel durch Schädlinge. Dann nehmen die Experten einen neuen Baum in die Gruppe auf.

Fast 6 800 Bäume, sowohl in Hand des Freistaates als auch aus kommunalem und privatem Eigentum, werden derzeit kontrolliert. Am Montag begann die deutschlandweite Waldzustandserhebung. Noch bis Mitte August sind in Sachsen sieben freiberufliche Inventurtrupps unterwegs. Zu jedem gehören zwei Experten, die sich die Bäume an den 283 Kontrollpunkten anschauen. Unterstützung bekommen die Freiberufler von den Mitarbeitern des Sachsenforst. Sie bilden zwei Kontrolltrupps, die die Freiberufler begleiten, Fragen beantworten und bei Problemen helfen. Auch Arnd Schöndube und Jens Handrick sind als Kontrolleure im Einsatz. Trotzdem führen auch sie Begutachtungen durch.

Auf die Krone kommt es an

„Wir fangen mit Baum Nummer drei an“, sagt Schöndube. Die Baum steht nah am Weg. Die Krone ist gut einsehbar. Das ist selten, aber wichtig. Denn bei der Bewertung der Bäume spielt vor allem die Dichte der Krone eine große Rolle. Schöndube und Handrick gehen etwa eine bis anderthalb Baumlängen von der Buche weg. Der eine links, der andere rechts entlang, um möglichst viele Bereiche der Krone einzusehen. Es kann sein, dass sich die beiden dabei aus den Augen verlieren. „Wir bleiben aber immer in Rufweite“, sagt Schöndube.

„Von hier seh ich was“, ruft der Forstingenieur. „Ich habe bissel Gegenlicht, aber es geht“, antwortet der 50-Jährige, während er seine Augen mit der Hand vor der Sonne schützt. Dann legt Schöndube los: „Die Krone strebt nach außen. Es gibt keine Fernverzweigung. Früchte sehe ich keine.“ Seine Einschätzung: „15 Prozent, eher besser.“ Aus Sicht von Handrick sieht der Baum vitaler aus. Er würde ihm zehn Prozent geben. „Gut, dann bleibt es bei 10 Prozent“, stimmt Schöndube zu. Ein Blick in seine „Baumfibel“, wie sie allen Begutachtern zur Verfügung steht, ist bei ihm nicht mehr nötig. Er zückt seinen Laptop. Keine Kronenbrüche. Keine Wildschäden. Kein Schädling. Er arbeitet seine Liste ab. Fertig.

Rund 16 Prozent des sächsischen Waldes waren letztes Jahr mittelstark bis stark geschädigt. So steht es im Waldzustandsbericht des Sachsenforstes 2016, der im Dezember veröffentlicht worden ist. Der neue, mit den Ergebnissen der aktuellen Erhebung, kommt in diesem Winter. Konkrete Maßnahmen werden daraus nicht abgeleitet. Ausgangspunkt dafür, ob Bäume beispielsweise gefällt werden müssen, sind die Forstschutzkontrollbücher, welche die Mitarbeiter der Forstreviere führen.

Als gesund gilt ein Baum bei einem Wert zwischen null und zehn Prozent, schwach geschädigt ist er bei bis zu 25 Prozent. „Ab 30 Prozent sprechen wir von starken Schäden“, sagt Schöndube. Kontrolliert werde nicht nur, wie licht die Baumkrone ist. Geachtet werde auch auf die Verfärbung. „Das kam in den 1970er bis 1990er Jahren relativ häufig vor“, so Schöndube. Der Grund für die Gelbfärbung: zum Beispiel Magnesiummangel. Ursache dafür sei der hohe Schwefelgehalt in Böden, zum Beispiel im Gebirge. Braunkohleverbrennung hatte den Boden versauert. Mit Kompensationskalkungen sind diesem die fehlenden Nährstoffe wieder zugeführt worden. „Es ist keine Düngung gewesen, wir wollten die Standorte schließlich nicht aufwerten. Es war lediglich eine Wiedergutmachung“, betont Schöndube.

Die Sachsenforst-Mitarbeiter ziehen weiter. „Der Baum ist nur schwer zu sehen. Um nicht zu sagen, ich sehe fast nichts“, sagt Jens Handrick, während er um die Lärche mit Nummer zwei herumgeht. Dann: „Ich habe ein Fenster gefunden.“ Mit dem Fernglas können die Experten durch die dichte Blätterdecke der benachbarten Bäume doch einen Blick auf die freie, unberührte Krone der Lärche werfen. Denn nur deren Zustand ist entscheidend. „Ich sehe mittlere Frucht“, sagt Schöndube. „Ja, das würde ich auch sagen“, bekräftigt Handrick. „Von hier aus sind es für mich 30 Prozent“, schätzt Schöndube. Sein Kollege stimmt zu.

16 Prozent Mittelsachsens ist Wald

Insgesamt 24 Mal durchlaufen die Experten das Prozedere an diesem Kontrollpunkt. Dann packen sie zusammen, fahren weiter.. „Pro Kontrollpunkt benötigen wir eine Stunde. Pro Tag kontrollieren die Trupps zwischen fünf und sechs Punkte“, erklärt Schöndube. Dafür fahren sie auch in die Nähe von Neuhausen an die Zschopau, zum Wald bei Berbersdorf, in den Zellwald bei Nossen und Siebenlehn. „Aufgrund der Landwirtschaft gibt es in der Lommatzscher Pflege kaum Wald“, sagt Schöndube. Den Altkreis Döbeln berühren sie demnach nur am Rand. Knapp 16 Prozent Mittelsachsens ist bewaldet. Im Freistaat Sachsen sind es rund 28 Prozent. „Das Ziel sind 30 Prozent“, sagt Schöndube. Hätte der Mensch in den Bestand nicht so massiv eingegriffen, um sich zum Beispiel seit dem Mittelalter Bäume zum Feuern und Bauen zu holen, wäre heute rund 80 Prozent Sachsens grün. Zudem gebe es nur wenige Fichten in den obersten Kammlagen.

Inzwischen hat sich der Blickwinkel gewandelt. Der Trend geht weg von der politisch-industriellen Forstwirtschaft der DDR-Zeit hin zu naturnaher Bewirtschaftung. So werde die Tanne zurück ins Gebirge gebracht. Anfang der 90er habe es nur noch 2 000 in ganz Sachsen gegeben.

„Der Wald hat nicht nur wirtschaftliche Funktion, er dient auch dem Naturschutz und der Erholung“, sagt Schöndube. Immer mehr nutzen das Grün in der Freizeit, sei es zum Spazieren, Wandern, Fahrrad fahren. Die Leute suchen Pilze oder mit dem Smartphone nach Geocaches, gehen auf moderne Schatzsuche. „Aber ob das gut ist für den Wald, wenn die Leute noch in der Dämmerung kommen?“, sagt Schöndube. „So finden die Tiere nie ihre Ruhe.“