Merken

Die Überlebenden mussten schweigen

Nach Kriegsende 1945 richtete der Sowjet-Geheimdienst NKWD im Osten Deutschlands zehn „Speziallager“ ein. Das Thema war zu DDR-Zeiten ein Tabu.

Teilen
Folgen
© dpa/Bernd Wüstneck

Von Winfried Wagner

Die Arbeitsgemeinschaft (AG) Fünfeichen erinnert an diesem Samstag an die Schließung des „Speziallagers Nr. 9“ des Sowjet-Geheimdienstes NKWD bei Neubrandenburg vor 70 Jahren. „Geplant sind ein Treffen von Häftlingen und Angehörigen, ein Gottesdienst an der Mahn- und Gedenkstätte Fünfeichen und ein Gedenkkonzert“, sagte AG-Leiterin Rita Lüdtke am Donnerstag in Neubrandenburg. Man rechne mit etwa 250 bis 350 Teilnehmern. „Das Jahr 1948 bedeutete für viele das Ende der Ungewissheit.“

Fünfeichen war von 1945 bis 1948 eines der größten NKWD-Lager in Ostdeutschland. Etwa 15 000 Menschen wurden in den meisten Fällen ohne Gerichtsverfahren eingesperrt. Ein Drittel von ihnen starb dort an Hunger, Krankheiten oder auch Folgen von Misshandlungen. Hunderte kamen nach Sibirien. Überlebende mussten in der DDR darüber schweigen. In Ostdeutschland gab es zehn solcher Lager, etwa in Sachsenhausen, Torgau und Buchenwald.

Da Fünfeichen von 1939 bis 1945 Kriegsgefangenenlager war, bauten Neubrandenburg und die AG nach 1990 eine gemeinsame Mahn- und Gedenkstätte Fünfeichen auf.

„Als das NKWD-Lager von April bis zum Herbst 1948 geschlossen wurde, kamen rund 5 000 Häftlinge frei“, sagte Lüdtke. Das sei eine große Erleichterung für die Familien gewesen, die jahrelang in Ungewissheit gelebt hatten. Über das Leben im „Speziallager Nr. 9“ hat die AG mit Zeitzeugen nach 1990 mehrere Filme gedreht, die inzwischen viele Facetten der entbehrungsreichen Zeit beleuchten. „Es sind aber noch lange nicht alle Schicksale aufgeklärt“, sagte Lüdtke. Immer wieder kämen Angehörige, die erst später vom Schicksal naher Verwandter und deren Aufenthalt im Lager Fünfeichen erfahren.

Es werde zudem immer schwieriger, noch Zeitzeugen zu finden, die über ihre Erlebnisse sprechen. Anfangs gab es mehr als 200 Überlebende, die zur Gründung 1991 Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft waren. Jetzt seien noch etwa 80 Überlebende bekannt, die zwischen 86 und 99 Jahre alt seien. Von den NKWD-Gefangenen, die wirklich ein Urteil hatten, das in Moskau aufzufinden war, sei das Gros inzwischen rehabilitiert. „Das war aber höchstens ein Prozent der 15 000 Inhaftierten“, erklärte Lüdtke. Die meisten seien vorsorglich weggesperrt worden, manche auch, weil sie deutsche Soldaten gepflegt oder leitende Funktionen bei einer NS-Kinderorganisation innehatten.

Häftlinge hätten das Lager zwar sehr unterschiedlich erlebt, aber es habe sie für ihr Leben geprägt. Das werde immer wieder gesagt. Manche hätten die Haft nur knapp überlebt und schlechte Erinnerungen. Andere konnten in der Landwirtschaft oder in einer Bibliothek arbeiten oder sogar einen Beruf erlernen.

Am Samstag soll Mecklenburg-Vorpommerns Landtagsvizepräsidentin Beate Schlupp die Gedenkrede halten. Das KIrchenkonzert für die Überlebenden und ihre Angehörigen bestreite das Heeresmusikkorps. Im Herbst will die Stadt mit einer Vortragsveranstaltung von Historikern die Geschichte der Lager Fünfeichen noch einmal fachlich beleuchten.

Fünfeichen war von 1939 bis 1945 bereits ein Kriegsgefangenenlager für 120 000 Soldaten aus elf Nationen. Dabei kamen rund 5 600 Gefangene ums Leben, darunter rund 5 200 Rotarmisten, an die ein Gräberfeld erinnert. (dpa)