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„Die Stasi wollte die Gruppe mundtot machen“

Das Stadtmuseum zeigt eine Ausstellung über die Riesaer Petition von 1976 – und darüber, was der Staat Menschen antat.

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© Patrick Menzel

Riesa. Die Stasi-Aufarbeitung in Riesa geht weiter. Nach einer dreißigteiligen Serie zu den Machenschaften des MfS präsentiert die Sächsische Zeitung jetzt die Ausstellung „Hilferufe aus Riesa“ über die „Riesaer Petition zur vollen Erlangung der Menschenrechte“ von 1976. Der Journalist und ehemalige SZ-Lokalchef Jens Ostrowski hat die Ausstellung recherchiert und zusammengestellt. Ein Gespräch über das Projekt, über Aufarbeitung und Verklärung.

Herr Ostrowski, was ist an der Riesaer Petition so besonders, dass ihr eine eigene Ausstellung gewidmet wird?

Die Riesaer Petition von 1976 ist die Geschichte des bis dahin größten Zusammenschlusses von Regimegegnern in der DDR seit dem 17. Juni 1953. In Riesa ist damals Weltgeschichte geschrieben worden, die nach der Wende völlig in Vergessenheit geraten ist. Zudem bilden die Geschichten der Betroffenen die gesamte Bandbreite dessen ab, was die Staatssicherheit Menschen antun konnte, die in der DDR auf ihr Recht auf ein freies Leben pochten. Die Erforschung der Riesaer Petition wurde deshalb allerhöchste Zeit.

Zeitzeugen vor Ort

Die Ausstellung wird am Sonntag, 10. Juli 2016, um 11 Uhr im Riesaer Stadtmuseum mit einem Festprogramm eröffnet und wird vier Wochen lang zu sehen sein.

Oberbürgermeister Marco Müller wird die Ausstellung offiziell eröffnen. Zudem gibt es unter anderem eine Podiumsdiskussion zum Thema.

Moderator Jens Ostrowski wird mit Konrad Felber (Leiter der Außenstelle Dresden der Stasi-Unterlagenbehörde), Karl Hafen von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte und ehemaligen Petitionären über die damalige Zeit sprechen.

Anschließend wird die Ausstellung unter anderem in Gütersloh und in Cottbus zu sehen sein.

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Was wollten die 79 Unterzeichner überhaupt erreichen?

Bei den Unterzeichnern handelte es sich ausschließlich um Ausreiseantragsteller, die aus unterschiedlichen Gründen in der BRD leben wollten. Der Initiator Dr. Karl-Heinz Nitschke, ein Internist aus der Betriebspoliklinik des Stahlwerks, setzte eine Petition auf und suchte Mitstreiter, nachdem seine zwölf Ausreiseanträge abgelehnt worden waren. Dabei beriefen sich die Unterzeichner auf die Gesetze der DDR und auf internationale Verträge, in denen sich die DDR zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet hatte. Dazu gehört auch die freie Wahl des Wohnorts.

An wen ging die Petition?

Die Petition wurde als Hilferuf an internationale Hilfsorganisationen, die Bundesregierung und zu westlichen Journalisten geschickt. Das alles löste eine enorme mediale Welle über die Menschenrechtsverstöße in der DDR aus.

Wie hat die Staatsmacht reagiert?

Die Stasi wollte die Gruppe mundtot machen. Sie versuchte von Beginn an, Dr. Nitschke zu kriminalisieren.

Wie das?

Seine Kontakte zu westlichen Journalisten wurden ihm später als Spionage ausgelegt. In der Zeit der Beweisführung versuchte das MfS, die meisten Unterzeichner zu isolieren. Sie wurden eingeschüchtert, unter Hausarrest gestellt, beobachtet, offensiv verfolgt. Manche verloren ihren Arbeitsplatz. Vor Nitschkes Haus in der Schweriner Straße stand zeitweise ein NVA-Lkw, aus dem heraus die Stasi jeden fotografierte, der das Wohnhaus betrat oder verließ. Klar, dass sich niemand mehr in Nitschkes Nähe traute. Letztlich wurden mindestens zehn Unterzeichner verhaftet und zu langen Haftstrafen verurteilt. Darunter auch Karl-Heinz Nitschke.

Welches Ziel hat die Ausstellung?

Die Ausstellung soll ein dunkles Kapitel der DDR-Geschichte aufklären und dafür sorgen, dass die Erinnerung daran nicht verblasst. Eine Umfrage unter der Riesaer Bevölkerung in der SZ hat vor zwei Jahren ja gezeigt, dass ein Großteil der Menschen die DDR-Zeit mittlerweile verklärt.

Aber man konnte in der DDR doch auch eine schöne Zeit haben ...

Keine Frage. Auf der anderen Seite ist Menschen, die selbstbestimmt leben wollten und somit an die Grenzen des Regimes stießen, vielerorts Schlimmes widerfahren. Für sie ist es wichtig, dass das Unrecht, das sie erleben mussten, anerkannt wird. Eine Ausstellung, die das veranschaulicht, hilft dabei.

Eignet sich die Ausstellung für den Unterricht?

Auf jeden Fall. Die gesamte Ausstellung kann von Schulen in Form von Plakaten oder Leporellos bestellt werden. Es wäre wünschenswert, wenn besonders in Riesa im Unterricht über die Petition gesprochen würde. Denn wie heißt es so schön: Nur wer die Geschichte kennt, kann die Zukunft gestalten. (SZ)

Schulen können die Ausstellung hier bestellen: bei der herausgebenden Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (Borsigallee 9, 60388 Frankfurt am Main) oder beim Menschenrechtszentrum Cottbus (Bautzener Straße 140, 03050 Cottbus).