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„Die Stasi hat ihn krank gemacht“

Die Riesaer Petition von 79 ausreisewilligen Bürgern überrascht selbst die Staatsmacht. Um den Protest zu ersticken, ist ihr jedes Mittel recht.

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Von Jens Ostrowski

Tausende Riesaer gehen seit den 60er Jahren täglich an einer großen Sandsteintafel vorbei, die mitten im Ortszentrum am Eckgebäude der Genossenschaftsbank für Handwerk und Gewerbe prangt. „Was Du nicht allein vermagst, dazu verbinde dich mit anderen, die das gleiche wollen“, hat der Riesaer Steinmetz Taupitz damals in den Stein gemeißelt. Vielleicht hat dieses Zitat von Hermann Schulze-Delitzsch, dem Begründer des deutschen Genossenschaftswesens, Dr. Karl-Heinz Nitschke zu seinem nächsten Schritt inspiriert.

... und kurz nach seiner Freilassung in West-Berlin.
... und kurz nach seiner Freilassung in West-Berlin.

Mitte 1976 hat der ausreisewillige Mediziner aus der Betriebspoliklinik bereits vergeblich fünf Ausreiseanträge an die Behörden der DDR gestellt, die allesamt abgelehnt wurden. Weil er in den regelmäßigen Aussprachen beim Rat des Kreises, aber auch gegenüber Kollegen und Patienten in der Betriebspoliklinik offen Staat und Regime kritisiert, ist er längst ins Visier der Staatssicherheit geraten. Für Nitschke spitzt sich die Situation immer weiter zu, seitdem sich auch die Frankfurter Gesellschaft für Menschenrechte für ihn einsetzt, Berichte in den Westmedien organisiert und Bürger aus Riesas Intelligenz anschreibt, um auf den Fall Nitschke aufmerksam zu machen. Der Geheimdienst will jetzt weitere Aktivitäten unterbinden. Doch der Mediziner fängt gerade erst an.

Nitschke ist jetzt jedes friedliche Druckmittel recht, das die Übersiedlung seiner Familie zu den Verwandten im Westen beschleunigen könnte. Und der Mediziner fasst gemäß des Zitats auf der Ernst-Thälmann-Straße einen Entschluss. Er will nicht länger alleine für seine Freiheit kämpfen und sich mit anderen zusammenschließen. Die Idee kommt ihm, als eines Tages in der Schweriner Straße 26 ein anderer Antragsteller vor seiner Wohnungstür steht, der nur ein paar Hauseingänge weiter wohnt. „Er brachte unter anderem zum Ausdruck, dass die ihm bekannten Antragsteller eine Demonstration durchführen sollten und dass man gemeinsam die Abteilung Inneres beim Rat des Kreises Riesa aufsuchen müsse, um auf diese Weise zu zeigen, dass die Antragsteller gewillt seien, ihre Anträge durchzusetzen“, sagt Nitschke in späteren Verhören.

Doch der Mediziner spricht sich für eine andere Form des Protestes aus. Ihm schwebt eine Petition vor, um die gemeinsamen Interessen durchzusetzen. Schnell spricht sich unter anderen Ausreisewilligen im Kreis Riesa herum, dass es einen Internisten gibt, der seit Jahren für seine Ausreise kämpft. Darunter auch Jörn Riedesel, ein Ingenieur aus dem Stahlwerk.

Zwischen dem 14. und 17. Juli 1976 gehen sie im Neubaugebiet Weida von Haustür zu Haustür. Im Schneeballprinzip füllt sich die Unterschriftenliste. Es ist geplant, die Petition der Bundesrepublik, der UNO, dem Deutschen Roten Kreuz, der Gesellschaft für Menschenrechte, aber auch den DDR-Behörden zuzustellen.

Nach der ersten Sammlung stehen 33 Riesaer – später werden es 79 sein – auf der Liste. Hinter den Namen verbergen sich 16 Familien mit insgesamt 56 Personen, die allesamt seit Mitte 1975 vergeblich Ausreiseanträge gestellt haben. Neben Nitschke und Riedesel, die als Arzt und Diplom-Ingenieur zur Intelligenz des Landes zählen, kommt das Gros der Petitionäre aus der Arbeiterklasse. 19 von ihnen arbeiten laut Stasi-Berichten im Stahlwerk, drei in der Volksbildung, zwei weitere im VEB Getreidewirtschaft. Außerdem gibt es noch einen Invalidenrentner und eine Hausfrau. Den Rest bildet eine Gruppe von Taxifahrern. Zu ihnen gehört auch der damals 36-jährige Heinz-Dieter Grau. Neben ihm unterschreiben seine Kollegen Roland Dumlich, Klaus Kreßler und Wolfgang Kahabka die Petition. Die Gruppe der Riesaer Taxifahrer macht bei ihren regelmäßigen Stammtischen im Sachsenhof keinen Hehl daraus, die DDR verlassen zu wollen. Und die Stasi lauscht mit. „Es blieb uns nicht verborgen, wenn am Nebentisch Spitzel Platz nahmen, um uns zu belauschen“, erinnert sich Grau. Einmal bieten die Taxifahrer ihnen übermütig an, sich doch gleich zu ihnen zu setzen. Dann bräuchten sie ihren Hals nicht so anstrengend zu strecken.

Am 20. Juli macht sich Karl-Heinz Nitschke auf den Weg nach Ost-Berlin. Dort übergeben sie dem Korrespondenten der Süddeutschen Zeitung, Peter Pragal, die Schriftstücke, der sie wenige Tage später nach Westberlin schleust und dort in den Briefkasten wirft. Pragal macht das nicht zum ersten Mal. Er hat schon anderen geholfen. „Es kam immer mal vor, dass vor allem Ostberliner Bürger, deren Ausreiseanträge abgelehnt worden waren, in meinem Büro standen und unbedingt wollten, dass ich über ihre Geschichte berichte. Sie glaubten, das würde ihnen zur schnelleren Ausreise verhelfen. Immer hat das aber nicht funktioniert, weshalb ich von stiller Diplomatie mehr gehalten habe, um diesen oft verzweifelten Menschen zu helfen“, erinnert sich Pragal.

Und doch findet das Schriftstück den Weg in die Medien. Im August erhält die Staatssicherheit Wind von der Petition – und wird kalt erwischt. „Dreiunddreißigmal SOS aus Riesa“ heißt die Überschrift eines Textes, den an diesem Tag die Bonner Wochenzeitung „Rheinischer Merkur“ druckt. Die DDR nennt das „Staatsfeindliche Hetze“, die sie mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren bestraft. Die Petition bereitet der Stasi von Beginn an Sorgen. Sie sei objektiv und subjektiv geeignet, die internationale Diffamierung der DDR herbeizuführen und die sozialistische Menschengemeinschaft zu zersetzen, heißt es in einem Sachstandsbericht.

In der Plattenbausiedlung Schweriner Straße heizt sich die Stimmung mittlerweile für jeden ersichtlich auf. Die Stasi setzt jetzt auf Psycho-Terror. Nitschke als „Rädelsführer“ soll ganz erkennbar beobachtet werden, um den Druck auf das Ehepaar, aber auch auf die anderen Petitionäre weiter zu erhöhen. Auf dem Rasen vor der Hausnummer 26, in der Nitschke wohnt, steht nun täglich ein Lastwagen der NVA – ein Robur LO mit Kastenaufbau. „Sobald wir unser Haus verlassen, öffnet sich eine zusätzliche Luke im Dach des Kastenaufbaus und ein Kopf mit Fernglas beobachtet jeden unserer Schritte. Offenbar will man dadurch die vielen hilfesuchenden Menschen abschrecken, die mich seit Veröffentlichung der Petition aufgesucht haben“, schreibt Nitschke in einem Brief.

Ab diesem Tag folgen auch die Mitarbeiter der MfS-Abteilung VIII dem Ehepaar auf Schritt und Tritt – für jedermann ersichtlich in einem Auto. Das private Telefon der Familie klemmen die Behörden unter dem Vorwand nicht bezahlter Rechnungen ab. Mit Psychoterror will der Staat seine Kritiker zermürben und isolieren.

Kreisarzt spitzelt als IM

Längst ist die Inhaftierung von Karl-Heinz Nitschke Ziel aller Ermittlungen der Staatssicherheit. Ihm sollen „Staatsfeindliche Verbindungen ins kapitalistische Ausland“ gemäß § 100, „Staatsfeindliche Hetze“ gemäß § 106 und die „Bildung oppositioneller Organisationen“ gemäß § 107 des Strafgesetzbuches der DDR nachgewiesen werden. Das sieht der Maßnahmeplan vor, den der zu diesem Zeitpunkt noch stellvertretende Leiter der Kreisdienststelle Siegfried Winkler unterzeichnet. Er will demnach auch gezielte Maßnahmen einleiten, damit „er von den Ärzten des Kreises verachtet wird“ und die „gleichzeitig eine Isolierung des Dr. Nitschke mit sich“ bringen.

Schließlich ist es soweit: Winklers Chef, Major Manfred Maier, unterzeichnet am 31. August 1976 den Haftbeschluss gegen Nitschke. Er wird am gleichen Tag in die Stasi-Untersuchungshaftanstalt in Dresden gebracht. Gleichzeitig werden alle anderen Petitionäre zu Verhören abgeholt, im gesamten Stadtgebiet gibt es Hausdurchsuchungen. Wenige Tage später werden weitere Petitionäre verhaftet.

In einer Kollektivaussprache in der Betriebspoliklinik sammeln Stasi und Staatsanwaltschaft am 20. September weitere Beweise gegen Nitschke. Das Protokoll liegt der SZ vor, und der perfide Plan von Siegfried Winkler scheint aufzugehen. Nicht einer der 33 Ärzte und Mitarbeiter ergreift Partei für den Kollegen. Im Gegenteil, viele belasten ihn. Der damalige Kreisarzt Dr. Hans-Jürgen Schwock alias „IM Toxin“ sagt: „Wenn Nitschke behauptet, er sei schikaniert worden, so ist das eine infame Lüge. Diese Behauptungen sind ausschließlich darauf zurückzuführen, dass wir es bei Dr. Nitschke mit einem ausgemachten Feind zu tun haben.“ Ein anderer Kollege gibt zu Protokoll: „Im vergangenen Jahr erschien Dr. Nitschke nach längerer Krankheit zu einer Leitungssitzung. (...) Er bezeichnete sich als Bundesbürger und negierte die gesamte Leitungstätigkeit der Klinik.“

Die Akten der Stasi belegen, dass dem Fall Nitschke eine besondere propagandistische Bedeutung zukommen soll. Das MfS erarbeitet dafür eigens einen Prozessvorschlag, dessen Handlungsstränge und Ende so detailliert geschildert werden, dass das Ziel dieser Verhandlung vor dem Bezirksgericht Dresden eindeutig ist: Anklage und Urteil sollen eine große abschreckende Wirkung bei ausreisewilligen und systemkritischen DDR-Bürgern hervorrufen. Und auch das Urteil steht zu diesem Zeitpunkt längst fest, Nitschke müsse zu acht bis zehn Jahren Haft verurteilt werden. Selbst eine Pressemeldung, die der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst nach dem Prozess verbreiten soll, wird von der Stasi vorgefertigt. Überschrift: „Subversives Element verurteilt“.

Die Beweise für eine Verurteilung reichen dem Regime vermutlich aus. Dank mehrerer Spitzel. Einer von ihnen soll laut Stasi-Akten ausgerechnet ein Petitionär der ersten Stunden gewesen sein: Jörn Riedesel. Demnach bot er seine Dienste der Stasi an, kurz nachdem Nitschke verhaftet wurde. Dank ihm will die Stasi erfahren haben, wo Nitschke seine Unterlagen versteckt hält. In einem Koffer befinden sich demnach Kopien der Petition, Briefe an Journalisten und andere westliche Organisationen – für die Stasi eindeutige Beweise für eine Agententätigkeit. In den Akten heißt es über Riedesel: „Der IM übergab dem MfS entscheidende Hinweise zur Entlarvung des Organisators der Riesaer Petition, Dr. Nitschke.“ Und: „Weiterhin konnten aufgrund der Informationen des IM“ drei weitere Antragsteller „inhaftiert werden“. Für seine Spitzeldienste soll Riedesel laut Akten nicht nur Geld erhalten haben, sondern auch seine eigene Übersiedlung in die BRD beschleunigt worden sein.

Aufgrund des wachsenden Drucks aus der BRD – neben zahlreichen Medien, die berichten, versucht auch die Bundesregierung Nitschke auf diplomatischem Wege freizukaufen – verzichtet die DDR schließlich auf einen Schauprozess. Nach einem Jahr in Untersuchungshaft darf Karl-Heinz Nitschke – und kurz darauf auch seine Familie – in den Westen übersiedeln. „Als ich meinen Vater zum ersten Mal begegnete, habe ich ihn nicht wieder erkannt. Er war abgemagert wie ein KZ-Häftling“, erinnert sich seine Tochter Marion.

Doch für andere Petitionäre geht der Nervenkrieg weiter. Mindestens neun Petitionäre konnten nach derzeitigen Recherchen von der BRD freigekauft werden. Viele andere zogen ihre Ausreiseanträge in den nächsten Jahren aufgrund des wachsenden Drucks zurück. „Unverbesserliche“ ließ das Regime irgendwann gehen.

Von Hannover aus helfen Dagmar und Karl-Heinz Nitschke noch eine Zeit lang den in Riesa zurückgebliebenen Petitionären. Doch der Mediziner kann seine Freiheit nicht lange genießen. 1984 stirbt er an den Folgen einer Herz-Operation. Seine Tochter ist sich sicher: „Die Stasi hat ihn krank gemacht.“ Unvergessen aber bleibt sein Einsatz für die Freiheit.

Lesen Sie morgen im nächsten Teil: Acht Spitzel, ihre Einsatzorte und wen sie an das Ministerium für Staatssicherheit verraten haben.

Alle Teile dieser Serie finden Sie unter: www.szlink.de/stasi