Von Jens Ostrowski
Sie verrieten Freunde, Arbeitskollegen und manchmal sogar ihre eigenen Ehepartner. Die Inoffiziellen Mitarbeiter der Kreisdienststelle der Stasi in Riesa machten die flächendeckende Überwachung erst möglich. Und gegen sie richtete sich nach der Wende auch die gesamte Wut auf das Ministerium für Staatssicherheit. Das begründet Dr. Peter Boeger von der Stasi-Unterlagenbehörde in Berlin mit einem psychologischen Effekt: „Von den Hauptamtlichen konnte man sich vorstellen, dass sie vor allem an ihren Schreibtischen saßen. Bei manchen war es zu DDR-Zeiten ja auch bekannt, wo sie arbeiteten. Die Inoffiziellen Mitarbeiter hingegen drangen unerkannt bis tief in die Privatsphäre der Menschen ein, die ihnen häufig nahestanden und vertrauten. Das macht die Sache so perfide und bei den Betroffenen natürlich auch besonders emotional.“
Mindestens 728 aktive Inoffizielle Mitarbeiter zählte die Stasi-Kartei 1989 im Kreis Riesa. Unter ihnen befanden sich 18 Führungs-IMs, die selbst Spitzel betreut und deren Einsatz organisiert haben. Das geht aus einer Statistik der Stasi-Unterlagenbehörde hervor. Damit kam zu diesem Zeitpunkt ein Spitzel auf rund 130 Einwohner. Die Riesaer Dienststelle belegt mit dieser Quote im Vergleich zu anderen DDR-Kreisen einen Platz im Mittelfeld. Die Dichte in anderen Bereichen der Republik zählte zwischen 80 und 160 Bürgern .
Konnte man sich weigern?
Dazu kamen außerdem noch leitende Funktionäre – egal ob in Betrieben, bei Vereinen oder auch in der Verwaltung. Sie alle waren dem MfS gegenüber auskunftspflichtig. Und nicht wenige von ihnen schrieben Berichte über ihr Umfeld.
Karl-Heinz Lange, Unterzeichner der Riesaer Petition, wehrte sich erfolgreich gegen eine Anwerbung als Spitzel. Doch längst nicht jeder Kandidat traute sich das – dabei war das in den meisten Fällen ohne Repressalien möglich. „Es gibt zumindest in den Akten keine Hinweise darauf, dass es für Menschen durch ihre Weigerung, für das MfS Spitzeldienste zu leisten, besondere Folgen hatte“, sagt Peter Boeger. Und auch, wenn er das dennoch nicht ganz ausschließen wolle, sei ebenso klar: „Die Angst vor Repressalien war bei den Betroffenen real, das darf man heute nicht unterschätzen. Denn niemand wusste ja, was passiert, wenn man nicht mit der Stasi zusammenarbeiten wollte. Das war ja damals nirgendwo nachzulesen.“
Kaum Weigerungen habe es aber auch deshalb gegeben, weil die Staatssicherheit ihre Kandidaten rundum überprüft habe, bevor es zum Erstkontakt gekommen sei, weiß Boeger. „Das heißt, der Geheimdienst war sich schon sehr sicher, auch Erfolg zu haben, wenn jemand geworben wurde. Denn es brauchte politisch zuverlässige Informanten, die möglichst freiwillig und aus eigener Überzeugung die Staatssicherheit unterstützen wollten. Die Gespräche fanden dann unter dem Vier-Augen-Prinzip statt, und die Kandidaten wurden unverhohlen gefragt, ob sie bereit seien, die DDR gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen. Das war ein psychologischer Trick“, weiß Peter Boeger. Und doch gab es auch andere Fälle. Menschen, die durch ihre Ausreiseanträge, durch gescheiterte Republikfluchten oder unbedachte Äußerungen gegen die DDR ins Visier der Stasi geraten waren und dann im Gegenzug für Straferleichterungen als IM angeworben wurden. „Besonders Jugendliche wurden so zur Mitarbeit bewegt – oder sozusagen als Wiedergutmachung für ihr Vergehen“, sagt Dr. Peter Boeger. Die Stasi achtete penibel darauf, dass sich auch die IMs untereinander nicht kannten. So gewährleistete der Geheimdienst unter anderem, dass ihre Informationen durch andere Spitzel gegebenenfalls überprüft werden konnten.
Nach der Wende trauten sich längst nicht alle IMs, sich bei ihren Opfern zu entschuldigen. Karl-Heinz Lange erlebte dabei die größte Enttäuschung seines Lebens. 1992 – zehn Jahre nach ihrer Ausreise in den Westen – kehrte er mit seiner Frau nach Riesa zurück. Ein Zwischenstopp bei alten Freunden. Am nächsten Tag wollen sie in Dresden ihre Stasiakte einsehen.
Die beiden Ehepaare tranken Wein, redeten über alte Zeiten. Alles war wie früher – als hätte sie die Mauer nie getrennt. Doch nur Stunden später wird diese Freundschaft durch eine bittere Wahrheit beendet. Der Taxifahrer IM „Hermann“ (siehe unten) hat Langes Jahre lang bespitzelt. Und das Schlimmste: „Er hat es uns nicht gesagt. Er wusste, dass es am nächsten Tag rauskommen wird – und hat es uns dennoch nicht gesagt.“
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