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Die Spaziergängerin vom „Alten Berg“

Die Somsdorferin Gertraud Diehl geht fast täglich eine Runde. Ihre Straße ist steil. Die 98-Jährige aber stört etwas anderes.

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© Andreas Weihs

Von Dorit Oehme

Somsdorf. Zierspargel grünt am Eingang. An der zweistöckigen Veranda blühen Geranien. Das Haus ist saniert, wie die meisten in der Straße Alter Berg in Freital-Somsdorf. An der Wohnungstür fällt die Drehklingel auf. Sie gehört zur Wohnung von Gertraud Diehl. In ihrer Stube stehen Chippendale-Stühle, die ihr Großvater in seiner Werkstatt im Dorf gebaut hat. Sein Vater fertigte sogar Stühle fürs Dresdner Schloss.

„Ich bin 1919 hier geboren. Schon meinen Ururgroßeltern gehörte das Haus. Es war erst halb so hoch. 1926 wurde es umgebaut“, sagt die 98-Jährige. Ringsum ist Wald. Hinterm Haus war eine Teewiese. Mit ihrem Mann imkerte Gertraud Diehl. Den Bach an der schmalen Straße vorm Haus staute ihre Großmutter für Enten an. Nun fließt er in einem tiefen Granitbett. Es wurde nach dem Unwetter von 1953 gebaut. Damals goss und hagelte es im Dorf so stark, dass das Bachbett ausgespült wurde. Das Hochwasser grub Rinnen, spülte Kabel und Wasserleitungen frei.

„Aufgehängte Wäsche spülte es ins Tal“, sagt Irene Kaden, Jahrgang 1938, aus der Nachbarschaft. Dann erinnert sie daran, dass die Straße erst namenslos war. „Es gab nur Hausnummern.“ Heimatforscher Konrad Schumann (1920 bis 1988) hat die Dorfgeschichte dokumentiert. Der Alte Berg ist Teil der historischen Butterstraße. Nach dem Gasthof Erblehngericht an der Höckendorfer Straße bogen die Händler aus dem Erzgebirge dort ein, um nach Dresden zu gelangen. Vor der Abfahrt legten sie den Wagen Bremshölzer an, die Hemmschuhe. Das Gasthaus „Zum Rabenauer Grund“ am Fuß des Berges ist noch als Hemmschuhschenke bekannt.

1905 bis 1906 wurde die Höckendorfer Straße von Hainsberg nach Somsdorf gebaut. Erst ab 1962 fuhr ein Linienbus. „Wenn der Arzt in unsere Straße kam, fuhren wir mit ihm im Auto zur Schule ins Dorf. Sonst liefen wir auf dem Alten Berg, wie alle. Bei Schnee nahmen wir den Schlitten“, sagt Irene Kaden.

Gertraud Diehl hatte Ballettunterricht. Bis ins hohe Alter turnte sie. Fast täglich geht sie noch eine Runde, im Winter mit Tochter Ulrike. Oft kommt sie dort vorbei, wo Martin Pöschels Kleinkaufhaus stand. „In seinem Holzhäuschen hatte er fast alles. Schon um 5 Uhr öffnete er für die Arbeiter, die in die Stadt liefen.“ Weiter oben hatte Fritz Petrovsky ein Fuhrgeschäft. Er brachte die Milch der Höfe zur Molkerei. Herbert Petrovsky bot Obstbaumpflege und -verpachtung an. Konrad Schumann war Schneidermeister. Frieda Lorenz verkaufte Lebensmittel. Gertraud Diehls Mutter war Putzmacherin, sie hatte erst ein Geschäft in Potschappel. Kundschaft kam sogar von Schloss Burgk. „Wir trugen als Kinder Hüte von ihr“, verrät Irene Kaden.

Auf den Alten Berg ziehen heute wieder verstärkt junge Menschen. „Für Fußgänger, besonders Schüler und Senioren, ist der Durchgangsverkehr gefährlich. Tempo 30 wird oft nicht eingehalten. Trotz der Bemühungen der Anwohner tut sich bei der Stadt nichts. Dabei war es schon eine Anliegerstraße. Es gibt auch keine Bänke mehr. Das ist schade für Spaziergänger.“

www.somsdorf-online.de