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Fahrradkorso bremst Autos aus

Wer sind die Radfahrer, die im Pulk plötzlich im Tunnel der Waldschlößchenbrücke auftauchen? Ein SZ-Reporter hat sie gefunden.

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© SZ/Peter Hilbert

Von Klemens Deider

Die Überwachungskameras zeigen Radler im Tunnel am Waldschlößchen. Nicht nur einer, Dutzende, mehr als Hundert: Alarm! Rote Kreuze leuchten an den Einfahrten auf. Die Schranke fährt quer. Durchfahrt verboten. Das war zuletzt oft so, an diesem Sonntag jedoch nicht. Häufiger sind andere Reaktionen, wenn die Fahrradfahrer der weltweiten Bewegung Critical Mass in Dresden – übersetzt: kritische Masse – auftauchen. Etwa: Staunen, wundern und freudiges Winken, interessiertes Nachfragen, woher und wohin der Fahrradkorso unterwegs ist, der im Straßenverkehr auf der Fahrbahn mitschwimmt.

Einfahren für die Rundfahrt: Die Raddemo startete an der Lingnerallee.
Einfahren für die Rundfahrt: Die Raddemo startete an der Lingnerallee. © René Meinig

Zum Glück sind die positiven Reaktionen deutlich häufiger als das erzürnte Hupen, Rufen oder Brüllen, sagt Max. Er ist einer, der regelmäßig an den Fahrten teilnimmt. Zweimal im Monat treffen sie sich, um sich für mehr Zweiradrechte stark zu machen. Demonstrieren wäre das falsche Wort. Denn eine Demo ist es nicht. Es gibt keinen Veranstalter oder Organisator. Critical Mass ist kein Verein, keine Organisation, die für festgelegte Ziele kämpft. Max spricht daher über die Gruppe, aber nicht in deren Namen. Sein eigener soll auch nicht komplett genannt werden. Er drückt sich so aus: „Die Critical Mass ist erst mal nur eine Radtour. Die Ziele sind dabei so heterogen wie die Mitfahrer.“

Kritisch wird’s, wenn Autos drängeln

Ziele seien etwa: bessere Bedingungen für Radler, auf der Straße als gleichberechtigt wahrgenommen zu werden und vor allem Platz auf der Fahrbahn zu bekommen. Platz, den Autos, Busse, Laster für sich beanspruchen. An diesem Sonntag haben sich etwa 40 Radfahrer am Skaterpark an der Lingnerallee getroffen. Viele sind zum ersten oder zweiten Mal dabei, wie Georg Horn. Der 22-Jährige Student kennt Critical Mass noch aus Hamburg. Wegen des gemeinsamen Fahrens in der Gruppe ist er heute hier. Natalie, Anfang 20, sieht es genauso. Auch wenn sie die Forderung nach mehr Radlerrechten ebenfalls unterstützen würde. Paul – Student, 24, seit zwei Jahren dabei – fährt mit einem Transportrad. Er will mit seiner Teilnahme anderen zeigen, dass die Fahrbahn allen gehört.

Entstanden ist die Bewegung 1992 in San Francisco. Weltweit treffen sich seitdem scheinbar zufällig und unorganisiert Radfahrer, um mit Fahrten durch Innenstädte für ihre Rechte zu werben. Je größer die Menge, desto größer die Beachtung – deshalb der Name Critical Mass.

So auch in Dresden. Über eine Homepage und Facebook-Seite wird zum Treffen aufgerufen: jeden letzten Freitag im Monat um 18.30 Uhr und jeden zweiten Sonntag im Monat, 14 Uhr. Start ist an der Halfpipe auf der Lingnerallee. Wo’s langgeht, entscheiden die, die vorn fahren. Und ab geht’s über die Fahrbahn. Möglich macht das eine Regel, die kaum einer kennt, aber jeder nachlesen kann: Für die Straßenverkehrsordnung ist eine Gruppe von mehr als 15 Radfahrern ein Verband. Und als Verband dürfen die Radler zu zweit nebeneinander auf einer Autospur fahren. Fährt der erste im Verband bei Grün über eine Ampel, gilt die freie Fahrt auch für den letzten, solange der Tross nicht auseinanderreißt. Autofahrer stehen daneben und staunen meist. Oder hupen, wie am Sonntag auf dem Pirnaischen Platz.

Oder sie versuchen, sich in den Verband zu drängeln. Das seien die gefährlichsten Momente, sagt Max. „Kritische Situationen gibt es hin und wieder. Problematisch wird es, wenn andere Autos denken, sie könnten den kompletten Verband in unübersichtlichen Situationen überholen, und dann kommt Gegenverkehr“, sagt er. Trotzdem blieben Unfälle bislang aus, wie Polizeisprecher Thomas Geithner bestätigt: „Aus der jüngeren Vergangenheit sind keine relevanten Vorkommnisse in Bezug zu einer geplanten oder durchgeführten Critical Mass in Dresden bekannt.“

In den letzten Monaten ging’s oft durch den Waldschlößchentunnel. Der ist für Radfahrer gesperrt. Kameras mit sogenannten Video-Detektoren erfassen jede Bewegung in den Röhren, schwenken um und erkennen den Radlerpulk sofort, der bergab von der Stauffenbergallee heranbraust. Dann greifen die Überwacher in der Reicker Tunnelzentrale, die rund um die Uhr besetzt ist, ein. Sie sperren die Zufahrt kurzfristig, erklärt Straßenbauamtschef Reinhard Koettnitz. Sonst könnte es gefährlich werden. Bis zu drei Schwarzradler sichten die Überwacher wöchentlich. Daran haben sie sich seit der Eröffnung im August 2013 mittlerweile gewöhnt. Der seit diesem Jahr auftauchende Radlerpulk sei aber schon extrem. Die Dresdner Critical-Mass-Radler sehen darin nichts Ungewöhnliches. Diese Standardroute ist sogar auf ihrer Homepage ausgewiesen.

Durch den Tunnel oder nicht?

Ob die Sperrung der Tunneldurchfahrt für ihren Verband gilt, ist unter den Teilnehmern umstritten. Laut Polizei gibt’s da keine Zweifel: „Für Verbände gibt es keine Ausnahmen vom Durchfahrtverbot“, sagt Polizeisprecher Thomas Geithner. Eine solche Fahrt ist laut Verkehrsordnung (siehe Kasten) verboten.

Auch für Martin Volkmann, Anwalt für Verkehrsrecht von der Riesaer Kanzlei BSKP, gibt es für Critical Mass keine Ausnahme. Demnach bestünden auch im Verband die gleichen Regeln wie für jeden einzelnen Teilnehmer. Das heißt, keine Ausnahme vom Durchfahrverbot. Im Übrigen findet sich selbst auf der Internetseite von Critical Mass Berlin ein Hinweis an potenzielle Teilnehmer, nicht die Tunnel zu befahren. Zumindest die Berliner Gruppe geht wohl davon aus, dass selbst im Verband radelnde Teilnehmer vor den Tunneln umkehren müssen. Das führt dazu, so Anwalt Volkmann, dass jeder Teilnehmer von Critical Mass mit der Tunneldurchfahrt eine Ordnungswidrigkeit begehe. Der Bußgeldkatalog sieht dafür 25 Euro bis 30 Euro vor. (mit SZ/phi) Kommentar