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Die Ruhe vor den Turbulenzen

Der frühere Lufthansa-Pilot Rainer Plesse wollte immer in die Lüfte. Heute will er anderen die Flugangst nehmen.

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© Christian Juppe

Von Henry Berndt

Als der Flieger zur Startbahn rollt, schaut Rainer Plesse fast ein wenig sehnsüchtig aus dem Fenster des kleinen Schulungsraums im Flughafengebäude. Aus seinem Funkgerät knarzen die Anweisungen des Towers. Er weiß genau, was sie bedeuten. Bis 2007 war der heute 75-Jährige selbst Kapitän. „Mein erstes Flugzeug sah noch aus wie bei Lilienthal“, sagt er und lacht. Über seine Zukunft wusste er noch nicht viel damals, aber eines wusste er: Er würde in die Lüfte steigen. Schon als Schüler war er Segelflieger, dann Transportflieger bei der Nationalen Volksarmee und danach Testpilot für die Flugzeugwerft Dresden. Später heuerte er bei Interflug an und wurde nach der Wende von der Lufthansa übernommen. 45 Jahre lang verbrachte er über den Wolken, bis das 65. Lebensjahr unerbittlich an die Cockpittür klopfte. Noch am Tag vor seinem Geburtstag flog er, dann war er plötzlich Rentner.

„Ich bin sehr dankbar, dass ich diesen Beruf ausüben durfte“, sagt er. Es dürfte niemanden, der ihn kennt, verwundert haben, dass er auch nach seiner Karriere nicht so ganz vom Fliegen lassen konnte. Der Mann mit der festen, tiefen Stimme trägt sein einst blütenweißes Kapitänshemd mit den Schulterklappen heute allerdings hellblau eingefärbt. Das erscheint ihm nicht überzogen eitel, aber doch genau seriös genug für seine neue Aufgabe.

In den Jahrzehnten über den Wolken hatte er immer wieder mit Menschen zu tun, die den Flug nicht so genießen konnten wie er. Noch bevor das Flugzeug überhaupt losrollte, hatten sie Schweißausbrüche, sie atmeten schneller, ihr Kreislauf machte schlapp, sie weinten, klammerten sich am Sitz fest oder brachen gar in Panik aus. Etwa 10 bis 15 Prozent der Deutschen leiden unter Flugangst, schätzt Plesse. Früher habe er solche Passagiere häufig im Cockpit mitfliegen lassen, um ihnen zu zeigen, dass hier Piloten am Werk sind, die ihr Handwerk verstehen. Dann kam der 11. September 2001 und die Tür blieb zu.

Nach seinem Ausscheiden aus dem Beruf entschied sich Rainer Plesse, den Menschen mit Flugangst anders zu helfen. Er wollte Seminare für sie geben, in denen er aus erster Hand erklärt, dass diese ganze Fliegerei kein Teufelswerk ist. „Fliegen wird oft als etwas Mysteriöses wahrgenommen, funktioniert letztlich aber nach genau den gleichen physikalischen Gesetzen wie alle Dinge des Lebens.“

Er nimmt einen Föhn und pustet damit über ein Blatt Papier hinweg. Und siehe da: Das Blatt hebt sich. „Entstehung des Auftriebs am Tragflügel“, heißt dieser Teil seiner Ausführungen. Ein Blatt fliegt, okay, aber ein 400-Tonnen-Flugzeug? So manche tiefe Überzeugung von Flugangstpatienten ist auch für ihn nur schwer zu brechen.

„Was passiert mit dem Flugzeug im Gewitter?“, fragen sie mit großen Augen und er antwortet seelenruhig, dass Gewitter grundsätzlich umflogen würden. „Und was passiert, wenn ein Triebwerk ausfällt?“ Dank des anderen Triebwerks kann das Flugzeug trotzdem sicher gelandet werden.

Solche Antworten können helfen, manchmal reichen sie jedoch nicht. „In einem Seminar sagte mal ein Mann zu mir, dass er mit seiner Familie in den Urlaub nach Mallorca fliegen wollte und kurz vor dem Start wieder ausgestiegen sei, weil es nicht ging“, erinnert sich Rainer Plesse. Um Härtefälle wie diesen zu kurieren, spricht er über statischen Druck und Actio und Reactio, verpackt die Formeln aber in anschauliche Geschichten über Schlittenfahrten und Opas Drachen. „Ich bin kein Psychologe“, betont er, „aber ich weiß, dass die Quelle von Angst oft Ungewissheit ist“. Und genau dort will er ansetzen.

Seit neun Jahren gibt der Dresdner nun seine Kurse in der Volkshochschule. Er spricht über die Technik, die Flugsicherung und nicht zuletzt über das Wetter. Schließlich gehörten Turbulenzen zu den größten Angstmachern.

Manche Gruppen empfängt Plesse auch im Schulungsraum am Flughafen. Sein Konzept kommt an. Inzwischen spricht er auch regelmäßig in Leipzig, Chemnitz, Erfurt, Köln und Leverkusen. Für den nächsten Kurs an der Dresdner Volkshochschule am 26. und 27. Mai von 10 bis 15 Uhr gibt es noch freie Plätze. Kosten: 60 Euro.

Natürlich wird er dann auch um das Thema Katastrophen nicht herumkommen. Theoretisch weiß heute jeder, dass Autofahren viel gefährlicher ist als Fliegen. Schlagzeilen über einen Absturz sind selten – aber größer. „Heute passiert nur noch sehr selten etwas, wenn man bedenkt, dass zu jeder Zeit weltweit mehr als 10 000 Flugzeuge in der Luft sind“, sagt Plesse.

Wenn er einem Kursteilnehmer im Seminar nicht ausreichend helfen kann, bietet der frühere Pilot übrigens auch begleitete Flüge an. Die Betroffenen müssen dann zusätzlich nur für sein Ticket mitbezahlen. „Ums Geld geht es mir hier sowieso nicht“, sagt Rainer Plesse. „Man glaubt gar nicht, was Händchen halten und Taschentücher reichen bewirken können.“

www.flieg-entspannt.de