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Die Rückkehr der Blauhemden

Für eine Reportage lässt RTL eine Schulklasse eine Woche lang DDR spielen. Gedreht wurde in einem Schullandheim bei Riesa.

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© rtl / kerstin kummer

Von Dominique Bielmeier

Die DDR hätte sich einen freundlicheren Tag für ihre Wiedergeburt aussuchen können. Vor lauter Zittern können die 22 FDJler kaum stillstehen – dabei fängt gleich der Fahnenappell an. Die zweistelligen Temperaturen der letzten Tage haben sich fürs Erste verabschiedet. Stattdessen kriecht herbstliche Kälte unter die tintenblauen Hemden der Mädchen und Jungen und bringt ihre Zähne hörbar zum Klappern.

Beke Meyn und Birte Hüners können über Action-Deo, Wofacutan-Shampoo und Rot-weiß-Zahnpasta nur lachen. Nur die Florena-Creme finden sie gut. Foto: RTL/Kerstin Kummer
Beke Meyn und Birte Hüners können über Action-Deo, Wofacutan-Shampoo und Rot-weiß-Zahnpasta nur lachen. Nur die Florena-Creme finden sie gut. Foto: RTL/Kerstin Kummer © rtl / kerstin kummer

Die 14- und 15-Jährigen haben sich ordnungsgemäß in einer Zweierreihe vor dem Schullandheim Olganitz aufgestellt – irgendwo im Nirgendwo jenseits von Riesa. Die oberste FDJlerin und die Gruppenführerin eröffnen den Fahnenappell; zusammen mit den anderen Schülern rufen sie aus voller Kehle: „Freundschaft!“ Danach befestigen zwei Jungen die FDJ-Fahne am liegenden Mast vor ihnen und hieven ihn hoch. Der blaue Stoff weht nur leicht im Wind, die drei Buchstaben sind nicht lesbar.

Ein Junge mit blonden Struwwelhaaren trägt das Gedicht „Das Geheimnis der Jugend“ vor, danach singen alle gemeinsam „Vorwärts, freie deutsche Jugend“. Nur Frau Lehmann, die Lehrerin in dem strengen grauen Kostüm, ist wirklich textsicher. Die Schüler murmeln mit gesenkten Köpfen mit. Endlich die erlösenden Worte der Heimleiterin: „Der Fahnenappell ist beendet, ihr könnt gehen.“ Erleichtert treten die FDJler ab, nur um hinter sich zu hören „Moment mal, wo wollt ihr hin?“ Das Zittern ist längst nicht vorbei, das war erst die Generalprobe. Die zwei Kamerateams, die um die Teenager herumwuseln, haben noch nicht alles im Kasten. Es ist nicht die SED, die jede Bewegung der FDJler kontrolliert, sondern eine andere Institution mit drei großen Buchstaben: RTL.

Eine Woche lang dreht eine Produktionsfirma im Schullandheim Olganitz für den Privatsender eine Reportage. Die 22 FDJler in den blauen Hemden sind im wahren Leben eine neunte Klasse der Oberschule Apensen in Niedersachsen. In Olganitz, inmitten von Wald und Wiesen, abgeschirmt von der Außenwelt, haben sie sich auf ein besonderes Experiment eingelassen: Sie sollen einen Teil des DDR-Alltags kennenlernen – als Schüler und FDJ-Mitglieder.

Für Millionen von Jugendlichen in der DDR war dieses Leben alternativlos. Zwar erfolgte der Eintritt in die „Freie Deutsche Jugend“ mit 14 Jahren offiziell freiwillig. Doch die Verweigerung konnte der eigenen Zukunft schaden: Die FDJ entschied mit über die Vergabe von Abitur-, Studien- und Arbeitsplätzen. Wohl auch deshalb waren Mitte der 80er Jahre rund 80 Prozent aller Jugendlichen Mitglied. Der Austritt aus der Jugendorganisation erfolgte meist mit dem Ende der Ausbildung Mitte 20 – das Statut spricht von „ehrenvollem Ausscheiden“. Nicht selten schloss sich der direkte Eintritt in die SED an.

Für die Oberschulklasse ist das Experiment vor allem ein Riesenspaß – und nebenbei ein Projekt im Geschichtsunterricht, wie Schulleiter Günter Bruns erklärt. Zusammen mit einer Geschichtslehrerin haben er und die Schüler die siebenstündige Fahrt von Apensen bei Hamburg in die kleine Gemeinde Cavertitz auf sich genommen. Kurz vor den Sommerferien ist die Anfrage der Produktionsfirma gekommen. Die Schüler seien gleich begeistert gewesen. „Die Einverständniserklärungen waren so schnell da wie noch nie.“ Dabei sei Unterricht über die DDR erst im Lehrplan der zehnten Klasse vorgesehen. Entsprechend wenige Kenntnisse haben die Schüler bisher. „Sie wissen nicht mal, dass das Honecker auf dem Bild ist“, sagt Bruns und muss lachen.

An einer Wand im großen Saal des Schullandheimes hängt er, der „Generalsekretär des Zentralkomitees der SED“ mit der markanten Hornbrille und der Halbglatze. Er lächelt über die Szene vor sich: Auf den rechteckigen Holztischen stehen DDR-Fähnchen, daneben liegen noch die Speisekarten vom Mittagessen. Würzfleisch, Karlsbader Schnitte oder Scharfe Sache sind darin als Gerichte „Für den kleinen Hunger“ gelistet. Tote Oma, Letscho und Hoppelhoppel als Hauptspeisen. Die Schüler sollten erfahren, was in der DDR gegessen wurde. Dass die Karlsbader Schnitte zum Beispiel nichts anderes ist als ein Toast Hawaii. „Die Schüler haben sich gewundert, dass es Bananen zum Frühstück gab“, erzählt RTL-Redakteur Matthias Bolhöfer. Doch weil an diesem Tag früher ein DDR-Feiertag war, wurden die Südfrüchte ausnahmsweise angeboten.

Weil RTL mit Überraschungseffekt drehen möchte, dürfen die Jugendlichen nicht erfahren, was alles in den nächsten Tagen auf sie zukommen wird. Der Staatsbürgerkunde- und Geografieunterricht im Schulmuseum in Leipzig zum Beispiel. Oder der Besuch von Bürger Lars Dietrich, der am Lagerfeuer über seine eigenen DDR-Erinnerungen sprechen wird. Sie wussten noch nicht einmal, dass sie beim Einzug in die kleinen Bungalows ihre Smartphones und alle Kosmetikartikel abgeben müssten. „Wir dachten anfangs, das sei ein Scherz“, sagt die 14-jährigeBenina Grupe. „Dann haben wir Seifen und Shampoos gekriegt.“ In den Bungalows steht jetzt neben DDR-Jugendliteratur und DDR-Brettspielen original DDR-Kosmetik: Florena-Creme, Rot-weiß-Zahnpasta, Action-Deo und ein Shampoo ohne jeglichen Geruch. Benina: „Die stanken damals ganz schön nach Seife.“

Bei allem ist immer mindestens eine Kamera dabei, egal, ob es um die Reaktionen auf die neuen Pflegeprodukte oder auf die ungewohnten Blauhemden geht. Kleinere Schülergruppen geben am laufenden Band Interviews, das Kamerateam geht die ganze Zeit rückwärts vor den Schülern her. „Wenn Sie hinter der Kamera stehen, stehen Sie gut“ ist ein Motto des Teams. Wer gerade nicht gefilmt wird, wartet auf seinen Einsatz und darf für einen kurzen Moment wieder ein normaler Teenager sein.

Die Schüler haben aber auch schon einiges über die DDR erfahren dürfen. „Man war sehr eingeschränkt mit seiner Meinung“, sagt der 15-jährige Ben-Luca Tesch. Er spielt in der Drehwoche den „Außenseiter“, der sich weigert, das FDJ-Hemd zu tragen. Von der Lehrerin Frau Lehmann wird er deshalb regelmäßig zurechtgewiesen. „Du bist nicht würdig, dieses Hemd zu tragen“, sagt sie bei der Besprechung des Fahnenappells streng zu dem Jungen, der sich ein Grinsen verkneifen muss. So streng ist sie nur für die Kamera. „Ich entschuldige mich jetzt schon bei dir. Zu allen anderen werde ich nett sein, zu dir nicht.“ Sagt Frau Lehmann zu Ben-Luca, wenn das alles sehende Auge mal woanders hinschaut.

Frau Lehmann heißt eigentlich Elke Urban und ist Leiterin des Schulmuseums in Leipzig. Zusammen mit ihren Kollegen spielt sie geschichtliche Unterrichtsstunden für Gruppen nach. Doch DDR-Unterricht, das traut nur sie sich. „Weil es so viele verschiedene Erinnerungen an damals gibt.“ Sie hat die traurige Erfahrung gemacht, dass es bei Experimenten wie dem von RTL noch heute „so ausgeht wie in der DDR“: „Keiner widerspricht und dann sagen alle: Ich wollte eben zu den Guten gehören; Sie haben mich doch immer gelobt.“ Nur einmal hat sie erlebt, dass jemand das Rollenspiel durchbrochen hat, eine Schulklasse aus Soest war das. Genau das wünscht sie sich auch für das RTL-Experiment: „Ich würde jubeln, wenn sie alles hinschmeißen würden!“

Urban weiß jedoch gut, welche Faszination das Rollenspiel auf die Jugendlichen ausübt – allein die Uniform. „Die Hemden sehen relativ cool aus“, sagt zum Beispiel die 14-jährige Pia Tobaben. Schulleiter Bruns bemerkt, wie seine Schüler gleich eine geradere Körperhaltung eingenommen haben, seit sie die FDJ-Hemden tragen. „Fahnenappell und Lagerfeuer sind Dinge, die es genau wie Uniformen auch in der Hitlerjugend gab“, gibt Elke Urban zu bedenken. Und sogar heute haben Jugendliche noch eine Art von Uniform. Dazu muss man sich nur die Schüler aus Apensen ansehen: Jeder von ihnen trägt die Tracht der Moderne – eine Jeanshose.

Um das Rollenspiel immer mal wieder zu durchbrechen, gibt es nach den einzelnen Drehs kurze Auswertungen. Diese übernimmt Susanne Ungrad von der Produktionsgesellschaft Info Network, einer Tochtergesellschaft der Mediengruppe RTL Deutschland. Sie wurde selbst in der DDR geboren. Für die RTL-Reportage spielt sie die Heimleiterin. „Das nannte man früher Denunziation“, sagt Ungrad zu den um sie versammelten Schülern an einem der Holztische im Saal. Ein Junge hatte einen Klassenkameraden verpetzt, der seinen MP3-Player nicht abgegeben hatte. Beim Fahnenappell fragt Ungrad nach, ob die Schüler das Strammstehen und Befehlebefolgen nicht komisch finden. Sie zucken mit den Schultern. Die Jugendlichen machen unermüdlich weiter, stehen noch viele Minuten für die Kameras in der Kälte, tragen Gedichte vor und singen schief mit. Die Geschichtslehrerin Heike Claudé staunt: „Die machen das tapfer mit.“ Vielleicht weil sie wissen, dass – anders als in der echten DDR – der Spuk nach ein paar Tagen beendet ist. Vielleicht bleibt Elke Urbans Traum von den rebellischen FDJlern aber auch nicht ganz unerfüllt. „Jetzt dürft ihr ins Warme“, ruft ein Produktionsmitarbeiter nach dem Abdrehen des Fahnenappells. „Welches Warme?“ fragt trotzig eine Schülerin. In den Bungalows ist es genau so kalt wie draußen, die Heizung funktioniert nur bestimmte Zeit. Kaum ist die 14-jährige Beke Meyn nach dem Appell dort angekommen, wird wegen eines Interviews schon wieder nach ihr verlangt. „Ich war jetzt bei jedem O-Ton dabei“, sagt sie genervt. „Langsam habe ich keine Lust mehr dazu.“

RTL zeigt das DDR-Experiment anlässlich des 25. Jahrestages des Mauerfalls am 9. November ab Montag eine Woche lang im Mittagsjournal Punkt12.