Von Thomas Möckel

Pirna. Brigitte Lässig läuft auf dem Gehweg auf und ab, immer wieder schaut sie nach oben, manchmal, wenn die Augen ganz weit werden, hält sie sich eine Hand vor den Mund. „Ist das aufregend“, ruft sie in den Wind und den Lärm von der anderen Straßenseite, dabei umfasst sie mit beiden Händen den Unterarm ihres Nachbarn.

Bäumchen wechsle dich

Der Mann, der neben ihr steht, ist Mirco Kammann, Zugführer beim Technischen Hilfswerk (THW), Ortsverband Pirna. Er leitet den Einsatz am Sonnabendmorgen auf der Karl-Marx-Straße in Dohna. Mit 18 Einsatzkräften sind die Spezialisten angereist, sie sind die Hauptakteure beim Großeinsatz im Garten von Brigitte Lässig. Ein Baum wird gefällt. Aber nicht irgendeiner.

Die Colorado-Tanne mit den blau-grauen Nadeln, inzwischen 15 Meter hoch, wird der Weihnachtsbaum für den diesjährigen Pirnaer Canalettomarkt. Am Morgen reckt sich das Großgrün, noch fest verwurzelt, im Vorgarten der Seniorin empor. Wenige Stunden später steht es vor dem Rathaus in Pirna, Abertausende kleine Lämpchen an seinem Nadelkleid. Der Auftritt als leuchtender Begleiter in der Adventszeit ist das Finale eines Baumlebens, das vor 28 Jahren begann.

Brigitte Lässig, das lange graue Haar zum Pferdeschwanz gebunden, eine bunte Jacke am Leib, stammt aus Schlesien, aufgewachsen ist sie in einem Ort 32 Kilometer von Breslau entfernt, im letzten Kriegsjahr wurde sie vertrieben in Richtung Westen. Ins kleine gelbe Häuschen auf der Karl-Marx-Straße in Dohna war sie mit ihrer Familie 1988 gezogen, ein Jahr später pflanzte sie die Tanne vor dem Haus. Einen Anlass dafür gab es nicht, vorm Haus sollte etwas Hübsches stehen. Doch mit den Jahren wurde das Bäumchen auch zur Last.

Unterm Nadelmeer ist es sehr schattig, die Tanne lässt nur noch wenig Licht in Brigitte Lässigs Küche. Und weil der Baum direkt über einer Wasserleitung steht, so die Sorge die Seniorin, könnten die Wurzeln eines Tages den Versorgungsstrang beschädigen. Eines aber fürchtete Brigitte Lässig am meisten: dass der Baum eines Tages umkippen könnte, wenn allzu heftiger Wind in das Großgrün, das längst das kleine gelbe Häuschen überragt, fährt. So kam sie auf eine rettende Idee.

Scherben bringen Glück

Die 80-Jährige bot die Tanne als Weihnachtsbaum an, zunächst in Dohna, aber da, sagt sie, habe sich niemand zuständig gefühlt. So bot sie den Baum für den Pirnaer Canalettomarkt an, bei einer Abstimmung votieren die meisten SZ-Leser für das Dohnaer Gehölz. Und nun ist es soweit.

THW-Mann Philipp Hering ist in die Äste gestiegen, ein Stück über der Hälfte des Baumes schlingt er eine dicke Schlaufe um den Stamm, der Kranführer zieht sie stramm nach oben. Unten fixieren THW-Männer den Baum mit Seilen, auf diese Weise, sagt Kammann, halten ihn die Einsatzkräfte in Position, wenn der Baum nach dem Sägeschnitt in der Luft hängt. Mit Gekreisch frisst sich die Sägekette ins Holz, Späne stieben, nur Sekunden später verliert die Tanne die Bodenhaftung. „Hoffentlich hält das der Kran“, flüstert Brigitte Lässig. Kammann beruhigt sie. „Es ist nicht der erste Baum, den wir fällen“, sagt er. Aber die Männer haben ordentlich zu tun.

Windböen rütteln am frei schwebenden Großgrün, die Männer unten packen fest zu, damit der Baum nicht zu sehr pendelt, und doch passiert ein Malheur: Ein Ast drückt gegen das Fenster in Brigitte Lässigs Vorhaus, die gelbe Scheibe geht zu Bruch. Die Hausherrin nimmt es gelassen.

Vorsichtig hievt nun der Kran des Pirnaer Abschleppdienstes Reichelt den Baum auf einen Tieflader der Dresdner Schwertransport-Firma SST, das klappt einwandfrei. Als die Tanne liegt, binden die THW-Männer die Äste ein, damit sie nicht zu weit zur Seite hinausragen. Kurz nach 11 Uhr setzt sich der Konvoi in Bewegung, ohne Zwischenfälle passiert er die Strecke nach Pirna, auf dem Markt stellen die Spezialisten den Baum wieder auf und verkeilen ihn im Boden. Nach gut dreieinhalb Stunden steht der Weihnachtsbaum an seinem Platz. Helfer beginnen noch am Nachmittag, ihn zu schmücken. Als am Abend der Martinsumzug über den Markt flaniert, leuchten die kleinen Lämpchen am Baum Probe. Auch Brigitte Lässig freut sich sehr darauf, ihren Baum geschmückt zu sehen.

In dieser Woche hat die Seniorin einen Termin in Pirna, ihre Tochter wird sie begleiten, Brigitte Lässig hat sie schon überredet, danach gleich noch einen Abstecher auf den Markt zu ihrem Baum zu machen.

Zum Schluss schaut Brigitte Lässig noch einmal auf ihren Vorgarten in Dohna, THW-Männer und Baum sind längst verschwunden, die Stelle vor der Küche liegt nun hell und klar, nur der Stumpf erinnert noch an die Tanne. „Jetzt endlich“, sagt sie nach der Fällaktion, „fällt mir ein großer Stein vom Herzen.“