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„Die Polen sind Europäer mit ganzem Herzen“

Alle europäischen Länder sollten eines Tages zur EU gehören, sagt Richard Kühnel, Leiter der EU-Kommission in Berlin.

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© dpa

Herr Kühnel, Sachsen hat wie der ganze Osten besonders von finanziellen Hilfen der EU profitiert. 2,78 Milliarden Euro hat der Freistaat in den vergangenen sieben Jahren erhalten. Welche Folgen hat der Brexit für Sachsen?

Das hängt von den Regierungschefs ab. Wir, die EU-Kommission, haben die Mitgliedsstaaten gefragt: Was wollt ihr von Europa? Das müssen sie klären und dann kann entschieden werden, mit welchen Mitteln Europa auszustatten ist. Wir können in Zukunft weiterhin allen Regionen Geld zukommen lassen, auch wenn wir nach dem Austritt der Briten leichte Kürzungen nicht verhindern können. Oder wir konzentrieren uns nur noch auf die ärmsten Regionen. Dann erhält kein deutsches Bundesland mehr Fördermittel. Das ist nicht das Szenario, das wir als Kommission uns wünschen. Wir müssen aber ehrlich sein. Was nicht funktionieren wird, ist, dass die Mitgliedsstaaten volle Fördertöpfe erwarten, obwohl Brüssel weniger Beiträge erhält.

Sind nach dem Brexit nicht Einsparungen in der Europäischen Union zwangsläufig nötig?

Ja, natürlich. Aber wir wollen keinen Kahlschlag. Die Frage ist, wie weit und wo schneiden wir ein. Die Kommission schlägt vor, die Regionalförderung leicht, um fünf bis zehn Prozent, zurückzufahren. Auch bei den Direktzahlungen für die Landwirtschaft muss moderat gekürzt werden. Bei Forschung und dem Studenten-Austauschprogramm Erasmus wollen wir Kürzungen unbedingt verhindern.

CDU, CSU und SPD haben Brüssel bereits einen höheren Beitrag zum EU-Haushalt zugesagt. Wie wollen sich andere Mitgliedsstaaten verhalten?

Die Bereitschaft der Großen Koalition ist ein guter Ansatz, von dem wir hoffen, dass er Schule macht. Auch andere sind bereit, ihren Anteil leicht zu erhöhen. Die EU-Staaten geben ein Prozent ihrer Wirtschaftsleistung nach Brüssel. Von 100 Euro, die deutsche Bürger erwirtschaften, gehen circa 50 Euro an Bund, Länder, Kommunen und Sozialkassen, nur 1 Euro davon geht an Brüssel. Unser Vorschlag sieht eine Anhebung von 1,03 Prozent der Wirtschaftsleistung auf 1,1 Prozent vor. Wir haben ja nicht nur die Lücke, die der Brexit hinterlässt. Es gibt auch neue Aufgaben für Europa, zum Beispiel den Kampf gegen Terrorismus oder den Schutz der Außengrenzen.

Die EU möchte die Sicherung der Außengrenzen übernehmen. Warum?

Für die Mitgliedstaaten wird die Sicherung unserer Außengrenzen immer mehr zur gesamteuropäischen Verantwortung. Wir haben heute ja schon ein paar Hundert Mann in Süditalien und Griechenland, Bulgarien und Spanien, die dort die nationalen Behörden unterstützen. Aber es macht Sinn, dieses Personal aufzustocken. Oder, auch das wäre möglich, die EU übernimmt den Außengrenzschutz komplett. Die nationalen Beamten würden dann durch europäische Beamte ersetzt.

Sind Sicherheit und Grenzschutz nicht eine klassische nationale Aufgabe?

Ganz im Gegenteil. Viele halten die nationale Souveränität als Banner hoch, aber was heißt denn Souveränität? Souveränität heißt, die eigenen Interessen nach außen manifestieren und die Gesellschaft nach innen gestalten. Die Stärke der EU ist es, ihre Interessen zu bündeln und eine Art europäische Souveränität zu entwickeln. Zu glauben, jeder Staat könne sich heute allein schützen und sich abschotten, ist im 21. Jahrhundert ein Trugschluss. Wir können uns nur durch mehr europäische Kooperation schützen, nicht durch weniger. Souveränität, die nach Brüssel übertragen wird, geht nicht verloren, sondern wird gewonnen. Nur die EU kann Konzernen wie Facebook und Apple auf Augenhöhe begegnen. Eine einzelne Regierung schafft das nicht.

Ist es sinnvoll, armen und teils korrupten Ländern wie Serbien, Montenegro, Mazedonien, Albanien, Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo die EU-Mitgliedschaft schmackhaft zu machen?

Wir haben das Angebot an diese Länder erneuert, um sie zu ermuntern, den europäischen Weg weiterzugehen. Das ist ein offener Prozess, wir können nicht sagen, wann der abgeschlossen sein wird. Aber es ist unser Ziel, dass eines Tages alle europäischen Länder Teil der Europäischen Union sein sollten. Wir dürfen auch nicht naiv sein. Andere Staaten und Regionen nehmen massiv Einfluss auf den westlichen Balkan. Wollen wir wirklich mitten in Europa eine Einflusszone anderer globaler Mächte? Ein Beitritt der West-Balkanländer erfolgt selbstverständlich nur unter strikten Bedingungen. Wir unterstützen sie dabei, aber den Weg müssen sie selbst gehen.

Kommissionspräsident Juncker nannte als Ziel für einen Beitritt das Jahr 2025. Ist das nicht sehr ehrgeizig?

Wir wollten das Signal geben, dass wir nicht vom Sankt Nimmerleinstag sprechen. Unter idealen Bedingungen ist das Ziel erreichbar, aber dafür müssen sie sich enorm anstrengen. Es liegt in unserem Interesse, dass sie es tun. Die EU war immer ein Projekt des Ausgleichs zwischen wirtschaftlich starken und schwächeren Regionen. Die Wirtschaft in Deutschland hat davon enorm profitiert.

Sollte es vor einer neuen Erweiterungsrunde einen Bürgerentscheid geben?

Die Bundesregierung hat europaweite Referenden bisher abgelehnt. Im Falle von Reformen der EU-Verträge könnte ich mir Abstimmungen durchaus vorstellen. Bei der Aufnahme neuer Mitglieder sehe ich Referenden skeptisch. Die Frage ist doch, warum Länder wie beispielsweise Österreich und Malta, die ohne Referendum beitreten durften, darüber abstimmen sollen, ob neue Mitglieder hinzukommen.

Die Fronten zwischen der EU und Polen sind verhärtet. Ist ein Austritt Polens vorstellbar?

Das kann ich mir nicht vorstellen. Die Polen sind Europäer mit ganzem Herzen. Die Zustimmung zur EU ist schon aus historischen Gründen sehr groß, das bestätigen uns Umfragen immer wieder. Die Erwartungen der Polen, Letten und Ungarn an die EU sind vielleicht andere als hier, aber deshalb sind es keine falschen Erwartungen. Sie müssen die Chance haben, die EU mitzugestalten. Wenn allerdings Grundwerte verletzt werden, müssen wir die Grenzen aufzeigen.

Aber eine Werbung für eine weitere Vertiefung der EU ist dieser Streit nicht.

Was mir bei solchen Konflikten hilft, ist, einen Schritt zurückzutreten und einen Blick auf das große Ganze zu werfen. Europa hat in den vergangenen hundert Jahren die tiefsten Abgründe erreicht. Und jetzt sind wir der Hort der Stabilität des Planeten Erde. Das dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren. Natürlich haben wir fundamentale Meinungsunterschiede. Aber wir sind auf das engste miteinander verbunden und müssen uns in einem globalen Umfeld bewähren gegen neue geopolitische Machtzentren, die eine teils aggressive Expansionspolitik betreiben. Wir müssen die Kunst des Kompromisses wieder entdecken. Das gilt für die neuen wie auch für die alten Mitgliedsstaaten.

Gespräch: Karin Schlottmann