Von Tina Soltysiak
Ein Pferd schnüffelt neugierig an einem Wahlkampfflyer, auf dem das Gesicht von Dr. Simone Raatz zu sehen ist. Die 54-Jährige selbst ist es, die dem Vierbeiner das Blatt vor die Schnauze hält. Es ist Wahlkampfzeit. Und die Freibergerin nimmt diese, trotz all der Wichtigkeit der Inhalte und der Werte, für die sie steht, mit Humor. „Haustürwahlkampf in der Großstadt kann jeder. Wir gehen in ländliche Regionen. Heute Lauenhain und Rossau“, schreibt die SPD-Politikerin auf ihrer Seite im sozialen Netzwerk Facebook zu dem Foto. Sie weiß, dass in der heutigen Zeit moderne Medien immer wichtiger werden, um vor allem die jüngere Wählerschaft zu erreichen. „Aber auch für diejenigen, die weiter weg wohnen und sich informieren möchten, was in ihrer Heimat geschieht“, sagt sie. Sie überlege vorab immer ganz genau, was sie preisgibt. Ein Foto aus ihrer Kindheit teilt sie gern: Es zeigt sie mit der Zuckertüte in der Hand und sie wünscht allen Erstklässlern auf diesem Weg einen guten Start in ihre Schullaufbahn.
Simone Raatz ist einer von sieben Direktkandidaten, die am 24. September von den Mittelsachsen im Wahlkreis 161 in den Bundestag gewählt werden wollen. Sie tritt für die SPD an. Die Bildungspolitik ist eines ihrer Steckenpferde.
Sie selbst sei eine Einser-Schülerin gewesen. Nach dem Abitur in Weimar, dort ist Simone Raatz geboren und aufgewachsen, ging sie nach Halle, um Chemie zu studieren. „Meine Eltern sind beide Germanisten. Ich hatte einen sehr guten Chemielehrer, das Fach hat mir Spaß gemacht. Und das Studium war in gewisser Weise eine Gegenreaktion auf das Berufsbild meiner Eltern“, sagt sie. An ihre Studentenzeit hat sie gute Erinnerungen. „Ich habe das Studentenleben sehr genossen. Auch wenn wir Chemiker viele Praktika hatten, die nachmittags und abends stattfanden, wenn andere schon feiern konnten“, erzählt sie schmunzelnd. Überhaupt lächelt sie oft. Sie hat eine positive Grundeinstellung – und einen, wie es scheint, unerschütterlichen Optimismus.
Sechs Fragen an: Dr. Simone Raatz (SPD)
Zur Person
Doch in ihrem Leben war nicht immer alles eitel Sonnenschein. „Ich hatte auch Existenzängste“, gibt sie zu. Kurz nach der Wende war das. Sie hatte nach ihrem erfolgreichen Abschluss 1986 eine Anstellung als Diplomchemikerin am Forschungsinstitut für Aufbereitung (Fia) in Freiberg bekommen. Ein Jahr später kam ihre Tochter Alena zur Welt – bis heute ihr ganzer Stolz. Im Zuge der Wende wurde das Fia „abgewickelt“. „Ich stand da, ohne Arbeit, mit einem kleinen Kind und habe mich gefragt, wie es für mich weitergeht. Schließlich sind damals zur selben Zeit viele Menschen arbeitslos geworden“, erinnert sie sich. Deshalb hat sie sich nun während der Krise des Freiberger Unternehmens Solarworld für den Erhalt der Arbeitsplätze eingesetzt. Schließlich sei es „ein wichtiges Unternehmen unserer Region und einer der größten Arbeitgeber in Freiberg und Mittelsachsen“. Auch ihr persönliches Umfeld sei von der Krise betroffen. „Freunde von mir arbeiten bei Solarworld. Sie stehen teilweise ebenfalls vor einer ungewissen Zukunft, so wie ich damals“, sagt Simone Raatz. Nach ihrer Wiederwahl – sie geht davon aus, dass diese gelingt – will sie dafür kämpfen, dass eine Strategie entwickelt wird, um Schlüsseltechnologien zu erhalten. „Klar ist, wir können mit staatlichem Geld kein insolventes Unternehmen retten. Aber wir müssen unsere Unternehmen besser schützen. Es ist der falsche Weg, unser Know-how nach China zu verkaufen und uns hinterher zu wundern“, meint sie.
Ihre Freundschaften sind ihr wichtig. „Ich nehme mir trotz all meiner politischen Aktivität Zeit für sie. Freunde erden. Allerdings habe ich Glück und einige begleiten mich auch gern, wenn ich Wahlkampfauftritte habe. So kann ich beides verbinden“, sagt Simone Raatz. Sie ist viel unterwegs. „Politik war aber auch schon immer mein Hobby, deshalb macht mir das wenig aus.“ Seit 1989 ist sie SPD-Mitglied. „Damals mussten wir uns noch heimlich treffen.“ Die Wendezeit habe sie trotz, aber auch gerade wegen der zahlreichen Umbrüche spannend gefunden. „Ich wollte etwas tun und nicht alles einfach über mich ergehen lassen“, sagt sie. Ihr habe vor allem das Frauen- und Familienbild der SPD gefallen. „Und die Ostpolitik von Willy Brandt“, ergänzt sie. Ihn habe sie leider nie persönlich kennengelernt. „Aber die Begegnungen mit Helmut Schmidt und Egon Bahr haben mich beeindruckt. Bahr war mal in Freiberg: ein relativ kleiner Mann, schon älter, aber mit klugen, munteren Augen.“
Simone Raatz ist eine von zehn Personen, die zur Wendezeit die SPD in Freiberg, damals hieß sie noch SDP, gegründet haben. „Das war gar nicht so einfach, denn die Strukturen mussten erst aufgebaut werden“, erinnert sie sich. Sie wurde die stellvertretende Ortsvereinsvorsitzende und ist von Beginn an Kreistagsmitglied. Hauptberuflich widmete sie sich zu jener Zeit der Forschung, hatte eine Anstellung als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin am Institut Energieverfahrentechnik und Chemieingenieurwesen in Lehre und Forschung an der TU Freiberg. Diese Tätigkeit war es auch, die ihr 2009 den notwendigen Halt und eine Art sicheren Hafen bot. Sie kandidiert das erste Mal für die Wahl des Bundestages – und scheiterte. „Ich war wahnsinnig enttäuscht, weil das Wahlergebnis die aus meiner Sicht gute Arbeit nicht widergespiegelt hat. Man hat etwas zu sagen, gewisse Vorstellungen und möchte etwas verändern – und dann wird dies nicht honoriert. Das war schon ein Rückschlag“, sagt Simone Raatz. Sie sei froh gewesen, dass sie ihren Beruf hatte.
Vier Jahre später gelang ihr schließlich der Sprung nach Berlin. „Seitdem habe ich meine wissenschaftliche Tätigkeit stark zurückgefahren. Denn dafür fehlt die Zeit.“ Sie ist die stellvertretende Ausschussvorsitzende für Bildung und Forschung und Mitglied im Petitionsausschuss. Stolz ist sie darauf, dass das Wissenschaftszeitvertragsgesetz im April 2016 – nach zweijähriger Erarbeitung und Diskussion – in Kraft getreten ist. „Ich habe an der TU beobachtet, dass die jungen Wissenschaftler immer nur Verträge bekommen haben, die auf ein Semester befristet waren. Vor allem Frauen sind deshalb aus dem Wissenschaftssystem ausgestiegen, weil die Unsicherheit zu groß war. Dank des neuen Gesetzes ist ein Umdenken zu beobachten. Die Universitäten und Hochschulen sehen sich jetzt auch als Arbeitgeber“, so Simone Raatz. Unter guter Arbeit versteht sie tariflich bezahlte, sozial abgesicherte, familienfreundliche und möglichst unbefristete Jobs.
Doch auch in anderen Bereichen sei die wirtschaftliche Unsicherheit ein großes Problem: „Wir müssen eine nachhaltigere und stabilere Förderung von Projekten, wie sie beispielsweise der Döbelner Triebhausverein umsetzt, erreichen. Die Förderperioden müssen länger sein. Schließlich kostet auch das Beantragen immer viel Zeit. Das können wir aber nur gemeinsam mit den Kommunen und dem Land schaffen“, sagt Simone Raatz.