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Die Oma von gestern

Irma Weise hat den König begrüßt, zwei Weltkriege erlebt und Gedichte geschrieben. Bald wird sie 105 Jahre alt.

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© Sven Ellger

Von Nadja Laske

Der Kaffee ist kalt geworden. Irma Weise hat ihn ganz vergessen. Sie rezitiert. Ein wenig zögerlich reiht die kleine, zarte Frau im Rollstuhl Zeile an Zeile, fasst sich an die Stirn mit dem schlohweißen Haaransatz. „Ich muss mich erst einmal sammeln“, sagt sie und fängt von Neuem an.

Die Großeltern zogen Irma Weise in ihrer Gastwirtschaft auf.
Die Großeltern zogen Irma Weise in ihrer Gastwirtschaft auf. © privat
Als junge Frau wurde sie Verkäuferin und gründete eine Familie.
Als junge Frau wurde sie Verkäuferin und gründete eine Familie. © privat
1988 zog sie ins sogenannte Feierabendheim.
1988 zog sie ins sogenannte Feierabendheim. © privat
An der Seite der damaligen Ministerin Helma Orosz feierte sie 2004 die Grundsteinlegung der Alloheim Seniorenresidenz.
An der Seite der damaligen Ministerin Helma Orosz feierte sie 2004 die Grundsteinlegung der Alloheim Seniorenresidenz. © Thomas Kretschel

Unzählige Gedichte hat sie geschrieben und schon als Kind damit begonnen. Damals regierte in Sachsen noch ein echter König: Friedrich August III, der fünf Jahre nach Irmas Geburt wutentbrannt gesagt haben soll: „Macht doch eiern Dreck alleene!“ Kurz davor muss es gewesen sein, dass die heute 104-Jährige an der Hand ihres Großvaters den Monarchen traf und sogar von ihm angesprochen wurde. „Wir haben am gleichen Tag Geburtstag“, sagt Irma Weise, darauf ist sie so stolz wie auf ihre Erinnerung. Zeitgeschichten könne sie erzählen, wiederholt sie immer wieder: nicht nur vom letzten sächsischen König, sondern auch von den Goldenen 20er-Jahren, der Weimarer Republik, der Gründung der DDR und den beiden Weltkriegen mit Leid und Not dazwischen.

Doch die unfassbar vielen Erlebnisse dieses langen, langen Lebens verschwimmen in der halben Ewigkeit. Sie wollen Irma Weise nicht mehr so fließend von den Lippen gehen, wie ihre Gedichte. Mitten im wiegenden Klang der Verse blitzen in ihrem Gedächtnis Ereignisse auf, wie die Begegnung mit der Majestät. Oder die Stunden im Luftschutzkeller ihres Leubener Wohnhauses. Dorthin war sie mit ihren beiden Kindern erst kurz zuvor gezogen, raus aus der Innenstadt. So erlebte sie Dresdens Bombardierung im Februar 1945 zwar voller Angst und Bedrohung, doch weit genug weg vom Feuerkessel. Schon ihre Eltern hatten unter einem Weltkrieg gelitten und waren so früh umgekommen, dass ihre Tochter als dreijährige Weise von den Großeltern aufgezogen wurde. „Ich war nie ein richtiges Kind“, sagt die Seniorin. Seit sie denken könne, habe sie alle Dinge wirtschaftlich angepackt. Erst arbeitete sie mit im Gasthaus Zur Post in Pieschen, das Oma und Opa betrieben. Später wurde sie Verkäuferin in einer Fleischerei. „Wenn ich einen Kopf größer gewesen wäre, wäre ich Schauspielerin geworden“, sagt sie. „Ich hatte Talent und konnte sehr gut Gedichte vortragen.“ Nicht irgendwelche, sondern ihre eigenen, bei jeder Gelegenheit.

Die Liebe zur Sprache hat sie durchs ganze Leben begleitet. Ihre Freude, Dankbarkeit, Sorgen und Nöte verwandelte sie in Reime. Bis ins hohe Alter fasste sie Erlebnisse in Strophen zusammen. Als vor drei Jahren Schüler zu Besuch in Irma Weises Seniorenresidenz, das Alloheim An der Bürgerwiese, kamen, um für den Geschichtsunterricht Zeitzeugen zu befragen, setzte sich ein kleiner Junge auf den Schoß der damals 101-Jährigen. „Er sagte zu mir: Nein, so wie du ist meine Oma nicht“, erzählt sie. Auch das gab den Anstoß zu einem Gedicht. Darin erzählt sie, wie anders doch die Großmütter der heutigen Zeit sind: Modern, reiselustig, sportlich aktiv und nicht wie die früheren in „Perlonschürze“ gehüllt. „Die Oma von gestern wirds bald nicht mehr geben. Die Oma von heute will viel mehr vom Leben“, heißt es da. „Die Oma von gestern konnte noch Socken stopfen. Bei Husten und Schnupfen kam sie mit Nasentropfen.“ Diese Omas, die Irma Weise meint, haben Märchen erzählt und wussten, wie man Rollmops von Hand rollt. Sie haben gekocht und gebacken ohne Rezept und stellten den besten Schokopudding auf den Tisch.

Dabei war Irma selbst noch gar keine Vollzeitoma, als sie ins Feierabendheim zog, wie es in der DDR hieß. „Ich bin schon seit 30 Jahren hier“, sagt sie. Als ihr gleichaltriger Mann mit 75 Jahren starb, gab sie die gemeinsame Wohnung auf. „Ich konnte damals schon nicht mehr gut laufen, da hat meine Ärztin gesagt, es sei doch besser für mich im Heim.“ Aber fürs Altenteil fühlte sich Irma Weise zu rüstig. So arbeitete sie in der Verwaltung des Seniorenheimes als Telefonistin. „Vor allem nachts habe ich das Telefon betreut, da war viel Ruhe, um über die Dinge des Lebens nachzudenken und Gedichte zu schreiben.“

Bald hat Irma Weise ihren 105. Geburtstag. Klein aber froh soll die Feier sein. Sonst hat sie keine Wünsche, nur Sehnsucht nach Ruhe, Frieden und melodische Verse.