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Die Neuerfindung des Papiers

Die Digitalisierung scheint Papier aus unserem Alltag zu verdrängen. Ein Irrtum, beweisen sächsische Firmen und Forscher.

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© Kristin Richter

Von Jonas Gerding

Wer Lebensmittel kauft, schleppt meist auch Plastik mit ins Haus. Käse- und Wurstscheiben müssen durch eine Verpackung geschützt werden, die vor Ablauf des Verfallsdatums nicht selbst zerfällt. „Aber jetzt gibt es die Chance, die Verpackung durch den Einsatz von Zellstoffen recycelbar zu machen“, verkündet Tiemo Arndt, der an der Papiertechnischen Stiftung Heidenau (PTS) forscht. Noch ringt er mit einigen Feinden des Papiers: dem Wasser und mit Keimen, die er am Durchdringen der plastikfreien Hülle hindern möchte. Deshalb experimentiert er mit Chemikalien, die er der Zellstoffmischung zufügt, aus der die Papierverpackung hergestellt wird. Er ist zuversichtlich, dass in Zukunft Lebensmittelverpackungen im Biomüll entsorgt werden.

Die Firma SWAP macht’s möglich: sitzen auf Papier.
Die Firma SWAP macht’s möglich: sitzen auf Papier. © SWAP
Die Firma Saralon bringt Etikette zum Leuchten.
Die Firma Saralon bringt Etikette zum Leuchten. © Saralon

Die Digitalisierung scheint Papier aus unserem Alltag zu verdrängen. Navigationsgeräte ersetzen den Autoatlas, Emails den Briefverkehr und Online-Werbebanner die Reklamebroschüre. Das Beispiel der Heidenauer Forschungseinrichtung zeigt jedoch: In Wahrheit erlebt Papier eine Renaissance – nur in ganz anderen Lebensbereichen. Auch in Sachsen tüfteln Wissenschaftler, Mittelständler und Start-ups an neuen Anwendungen. Kofferraumablagen, Möbel, Industriefilter und Flugzeugwände formen sie aus Papier und bringen Verpackungen zum Leuchten. Dabei müssen sie nicht nur die Feinde des Mediums bezwingen. Sie müssen sich auch der Frage stellen, wann Papier aufhört, Papier zu sein.

Vor etwa 2 000 Jahren haben Chinesen damit begonnen, die Fasern von Hanf, Baumrinde und Seidenabfall mit Wasser zu vermengen, zu pressen und zu Papier zu trocknen. Nicht einmal Erfindungen wie metallene Schöpfsiebe und der Buchdruck im Mittelalter haben das Verfahren seither grundlegend verändert. Auch Heidenau, wo seit 1888 Papier produziert und seit 1946 geforscht wird, hat bahnbrechende Neuerungen wie den Digitaldruck, den Einsatz von chlorfreier Bleiche und die Einführung internationaler Normen miterlebt. Während der neusten Umwälzungen der Branche muss sich das Institut abermals beweisen. Im Vergleich zum Vorjahr produzierten Firmen hierzulande 2,9 Prozent weniger grafische Papiere, meldet der Verband deutscher Papierhersteller 2016. Andere Papiere, beispielsweise für Verpackungen und Hygieneartikel, verkauften sich hingegen um 1,7 Prozent und 6,7 Prozent besser als zuvor. „Das ist eine ziemlich tiefgreifende Transformation, in der wir uns befinden“, sagt Frank Miletzky, der seit sieben Jahren die PTS leitet, die in Heidenau und München etwa 100 Mitarbeiter beschäftigt. Wer mit dem 61-jährigen Honorarprofessor der TU Dresden eine Liste der sächsischen Papierhersteller durchgeht, stößt auf Unternehmen wie Kübler und Niethammer oder die Papierfabrik Hainsberg, die Insolvenz anmelden mussten. Die Gesamtbranche erzielt immer noch Profite, auch wenn diese geringer ausfallen als zuvor. Insbesondere in der Massenproduktion ist der Wettbewerb um immer niedrigere Preise rigoros. Je innovativer ein Unternehmen, desto höher ist indes die Chance, sich auf die Seite der Gewinner zu schlagen.

Klassische Papierbögen oder Kartons gehen im Frankenberger Unternehmen SWAP nicht vom Band. Mit Spezialprodukten aus Papier will der Betrieb seit der Gründung im Jahr 1996 herkömmlichen Materialien wie Kunststoffen und Holz Konkurrenz machen. „Unsere Produkte haben den Vorteil, leicht, stabil, preiswert und recycelbar zu sein“, sagt Geschäftsführer Uwe Müller. Einige der 110 Mitarbeiter verkleben mehrere Schichten Wellpappe zu einem dicken Block, der um 90 Grad gedreht und scheibchenweise aufgeschnitten wird. „Eine Festigkeit, dass man mit dem Auto darüberfahren könnte“, hätten jene patentierten, sogenannten „Stabilen Wabenplatten aus Papier“ (SWAP), erklärt Müller. Aus ihnen formt das Unternehmen jährlich Hunderttausende Kofferraumböden, Schiebedächer und Sonnenblenden. Auch energieeffiziente Gebäudefassaden, flexibel formbare Möbel und robuste Europaletten bilden sie daraus. Führende Automobilhersteller zählt Müller zu seinen Abnehmern, auch wenn er sie nicht beim Namen nennen kann. „Unsere Kunden haben Angst, dass der Einsatz von Papier mit einer Qualitätsminderung in Verbindung gebracht wird“, berichtet er über das Billig-Image, das dem Material anhaftet.

Auch Miletzky von der PTS kennt die Bedenken der Unternehmer: den Druck, sich durch Innovation behaupten zu müssen und die Kosten, die der Einstieg in neue Technologien abverlangt. Er will Unternehmen die nötige Ausrüstung geben, um neue Wege einschlagen zu können. Mit einem jährlichen Forschungsetat von 5 Millionen Euro entwickeln die Experten der Stiftung neben recyclebaren Lebensmittelverpackungen auch ultraleichte Faltstrukturen für das Innere von Flugzeugwänden oder feuerfeste Raumtrenner für Messestände.

Langfristig könnten faltbare Notunterkünfte in Krisengebieten aufgestellt und faserbasierte Außenfassaden bepflanzt werden; Toilettenpapier könnte sich bei Krankheitsverdacht färben und aromatisierte Cellulose gegessen werden, erhofft sich die PTS in der Broschüre „Faser&Papier 2030“. „Auch in Zukunft wird nicht die ganze Welt aus Papier bestehen“, relativiert SWAP-Geschäftsführer Müller solche Visionen. Zwar ließen sich den Fasermischungen unterschiedlichste Stoffe beimengen und Papiere mit Chemikalien überziehen. Die größten „Feinde“ des Materials, das Wasser und das Feuer, könnten so zwar abgewehrt werden. Das sei jedoch nur schwer umsetzbar, meint der Frankenberger Unternehmer, „ohne gleichzeitig den ökologischen Gedanken zu vernachlässigen“. Recycling ist eines der Verkaufsargumente von SWAP.

Die Kontroverse um das Potenzial des Papiers wirft eine weitere Frage auf: Wie weit kann der Wandel des Materials vorangetrieben werden, um immer noch von Papier zu sprechen? „Papier hört auf Papier zu sein, wenn keine Zellulose mehr drin ist“, sagt Ralf Hauser, der am Dresdner Fraunhofer Institut für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung ein Produkt entwickelt, das er seiner eigenen Definition zufolge eigentlich gar nicht als „metallisches Papier“ vermarkten dürfte. „Wir nennen es Sinterpapier, weil Papier die Grundlage ist“, rechtfertigt sich der 48-Jährige. Im Labor rührt seine Abteilung Zellulosefasern mit Metallpulvern und Bindemitteln zusammen, woraus sie eine dicke Papierschicht herstellen. Anschließend erhitzen sie diese. Erst auf bis zu 600 Grad, sodass die Fasern verbrennen; dann auf bis zu 1 200 Grad, damit das Material sich verfestigt. Dort, wo einst die Zellulosefasern waren, haben sich feine Poren gebildet. Das „Sinterpapier“, höchstens ein Millimeter dick, kann als Filter in der Industrie oder bei Dialysepatienten verwendet werden.

Das gesamte Umfeld der Papierbranche erfindet sich gerade neu. Der sogenannte „funktionale Druck“ wird in Fachkreisen als Zukunftstechnologie gehandelt – und maßgeblich an der TU Chemnitz vorangetrieben. Saralon ist eine Ausgründung des dort ansässigen Print- und Medientechnischen Instituts. Das neunköpfige Team des Start-up experimentiert seit 2014 mit ungewöhnlichen Tinten, die nicht länger nur Farbe, sondern verschiedene Zusammensetzungen chemischer und leitfähiger Stoffe enthalten. Schicht für Schicht trägt sie ein Spezialdrucker beispielsweise auf Papierverpackungen auf. Die dreidimensionalen Muster, die so gebildet werden, sehen nicht nur aus wie Schaltkreise, winzige Batterien und Lampen. Sie erfüllen auch deren Funktionen. „Im Prinzip geht es darum, im Druckverfahren Elektronik herzustellen“, erklärt Marketingleiter Steve Paschky, weshalb der funktionale Druck die Trennung zwischen innovativen Tintenherstellern und klassischen Elektronikproduzenten verschwimmen lässt. Edle Parfümschachteln in Boutiquen kann Saralon bereits zum Leuchten bringen. Und Apotheker können dank einer sich färbenden Verpackung erfahren, wenn kriminelle Zwischenhändler sie geöffnet haben, um Medikamente gegen Fälschungen auszutauschen.

Solange auf Papier gedruckt wird, zählt aus Sicht des Leiters der PTS auch Saralon zur Papierbranche im weiteren Sinne. Und auch Hersteller von Vliesstoffen, die ebenfalls mit Fasern arbeiten, möchte Miletzky da nicht ausnehmen.