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Die Minutenjäger von Leipzig

Bahnkontrolleure achten jetzt auf die planmäßige Abfahrt ihrer Verbindungen. Die Toleranz beträgt 59 Sekunden.

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© Sebastian Willnow

Von Sven Heitkamp

Es war jeden Sonntag das Gleiche. Der Intercity von Leipzig nach Emden, der Hauptstadt Ostfrieslands, kam nicht pünktlich vom Hof. Und das, obwohl der Zug erst in Leipzig eingesetzt wurde. Doch bei der Vorbereitung und Bereitstellung gab es immer wieder Verzögerungen. Bis sich ein Team von Experten der ewigen Verspätung annahm und die Fehler im System fand. Danach fuhr der IC planmäßig ab.

Der verspätete Ostfriese illustriert die Arbeit der neuen „Knotenkoordinatoren“ der Deutschen Bahn. Bundesweit hat der Konzern 72 solcher Spezialisten an seinen zehn verkehrsstärksten Knotenpunkten eingesetzt. Sie sollen die Pünktlichkeit vor allem im Fernverkehr verbessern. Der bisher einzige Bahnhof im Osten ist der Leipziger Hauptbahnhof mit rund 150 Fernzügen am Tag – 21 davon starten in Leipzig. Ab dem Fahrplanwechsel im Dezember kommt der Dresdner Hauptbahnhof als angrenzender Standort hinzu. „Plan Start“ soll dabei kein kurzes Aktionsprogramm sein. Die Teams seien dauerhaft und unbefristet eingesetzt, sagt Olaf Seemann, der Leiter der Betriebszentrale in Leipzig. Die Kontrolleure arbeiteten zudem weitgehend unabhängig und seien auch weisungsbefugt.

Für Seemann ist das Programm kompromisslos. Es gehe nicht nur um „Pünktlichkeit“, die bis zu fünf Minuten Verspätungs-Toleranz lassen würde. Es gehe um „Planmäßigkeit“. Sie erlaube den Bahnern seit Jahresbeginn nur noch 59 Sekunden Spielraum bei der Abfahrt der Züge. „Dieses Kriterium macht Mängel in den Abläufen gnadenlos sichtbar“, sagt Seemann. Bis 2018 sollen 90 Prozent der Fernverkehrszüge in den Knoten „planmäßig“ starten. Das Unternehmen besinne sich mit dem Programm auf seine uralten Tugenden, sagt Seemann, als die Bahn ein Synonym für Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit gewesen sei. Diese Qualitäten seien etwas in Vergessenheit geraten. Erschwert werde der Anspruch zudem durch zunehmende gesetzliche und tarifliche Bedingungen.

Nun aber sollen die Knoten-Kontrolleure helfen, die Attraktivität der Bahn für die Kunden wieder zu erhöhen. „Die Plan-Start-Teams sind Impulsgeber für Kollegen, wo Nachlässigkeiten eingezogen sind“, sagt Seemann. „Sie sollen alle Bahner vom Zugbegleiter bis zum Fahrdienstleiter sensibilisieren und ein anderes Bewusstsein schaffen.“ Die „Minuten-Jäger“ wurden dafür gezielt aus unterschiedlichen Konzernbereichen ausgewählt: dem Bahn-Netz, dem Bereich „Station und Service“ und dem Fernverkehr.

Immer diese Küsserei

Zwei der sechs Leipziger Kollegen sind Katrin Rall und Philipp Hennemann. Katrin Rall, 49, ist ein Urgestein der Bahn: Seit 1983 ist sie dabei, zuletzt war sie als Bezirks-Betriebsleiterin für die Fahrdienstleiter verantwortlich. Philipp Hennemann, 36, ist seit 16 Jahren Bahner, er organisierte in den vergangenen zehn Jahren den Bordservice vor allem für Nacht- und Autozüge. „Plan Start“ steht nun auf ihren orangefarbenen Westen, wenn sie in der großen Halle des Leipziger Hauptbahnhofs unterwegs sind. Sie reden mit Zugbegleitern und Fahrdienstleitern, Ansagerinnen und Lokführern, um die Verspätungen zu verstehen und abzustellen. „Wir kontrollieren Fahrpläne und Bahnsteigbelegungen, beobachten Reisende und Kollegen und verfolgen die Zugbereitstellung bis zum pünktlichen Schließen der Türen“, so Katrin Rall.

Im System Bahn sind viele Stellschrauben zu drehen – wie die morgendliche Verbindung von Dresden Richtung Frankfurt zeigt. Viele Pendler kommen um 6:27 Uhr mit dem IC in Leipzig an und fahren um 6:31 Uhr mit dem ICE weiter. Nur vier Minuten Luft! Bislang mussten die Reisenden dabei sogar zu anderen Bahnsteigen laufen. Eine Verspätung war beinah programmiert. Nach dem Check der Knotenkoordinatoren stehen die Züge nun am selben Bahnsteig gegenüber, was das Umsteigen beschleunigt. „Manche Abläufe, die im Fahrplan stehen, sind in der Realität kaum haltbar“, sagt der Dresdner Philipp Hennemann, der selbst jeden Tag mit dem Zug nach Leipzig fährt. Nach den ersten Monaten ihres Einsatzes seien nun erste Effekte messbar. Die Pünktlichkeit sei von nur 73,4 Prozent zwischen Januar und September 2015 auf 82,7 Prozent dieses Jahr gestiegen, so Hennemann. „Immerhin neun Prozentpunkte!“

Mitunter sind es auch unaufmerksame Reisende, die für Verspätungen sorgen – mit langen Abschiedsküssen in den Zugtüren etwa. Die neuen Doppelstock-ICs haben zudem Türen mit Schließautomatik. Steht ein Reisender in der Lichtschranke, kann der Zug nicht abfahren. Seit Mitte Oktober nun können Lokführer per Durchsagen darum bitten, von den Türen zurückzutreten. „Wir müssen aber auch den Zugbegleitern deutlich machen, dass sie eine Vorbildfunktion haben“, sagt Olaf Seemann. „Sie können schon durch ihre Körpersprache signalisieren, dass sie pünktlich abfahren wollen.“ Schaffner, die in der Raucherecke stehen, vermitteln einen anderen Eindruck.

Bei Kollegen, denen sie auf die Füße treten, sind die Kontrolleure indes wenig beliebt. „Verspätungs-Polizei“ gehört noch zu den harmloseren Bezeichnungen. „Einige Kollegen sagen aber auch zu uns: Endlich kümmert sich mal jemand um die Themen“, erzählt Katrin Rall. Mit den Koordinatoren an anderen Knoten tauschen die Leipziger ihre Erkenntnisse aus, damit nicht alle die Arbeit doppelt machen. Die Leipziger kümmern sich zum Beispiel gerade um die Bildung von Fahrwegen besonders in Bauzeiten. Weil dafür immer Weichen nacheinander gestellt werden müssen, sollen dafür extra Zeiten eingeplant werden, sagt Hennemann. Lernen kann man von den Leipzigern. Sie gehören zu den Pünktlichsten im deutschen Netz.