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Die Kreissäge im Ohr

Immer mehr Menschen leiden an Tinnitus. Oft ist Lärm der Auslöser. Hilfe gibt es in der Pulsnitzer Schwedenstein-Klinik.

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© Matthias Schumann

Reiner Hanke

Pulsnitz. Das Kreischen einer Kreissäge geht wohl jedem Menschen durch Mark und Bein. Christa M. hat es im Ohr, fast ständig. Manchmal auch ein Piepen oder Rauschen. Mal hoch, mal tief und links lauter als rechts. „Der Ton lebt“, sagt sie. Und jetzt ist sie dabei zu lernen, mit dem Ton zu leben. Das ist nicht leicht, denn das Geräusch nervt, es kann den Leidenden zur Verzweiflung bringen.

Christa M. hat es schließlich nach Pulsnitz gebracht zu Oberärztin Dr. Claudia Böttcher. Sie ist seit zwei Jahren als Psychiaterin und Psychotherapeutin an der Helios Klinik Schwedenstein tätig und Spezialistin für Psychoonkologie und solche Ohrgeräusche, den Tinnitus. Bei Christa M. wurden die Beschwerden im vorigen Herbst akut. Sie erinnert sich genau. Als Studienberaterin einer Uni in Köln war sie auf einer Messe für angehende Studenten in der Eifel unterwegs, als es passierte: „Das war wie der Ausbruch eines Vulkans“, sagt sie. Auf dieser Messe sei die Uni mit einem Stand vertreten gewesen. „Es war unheimlich laut, ein Stimmengewirr.“ Alles schwirrte ringsherum. Da traf es die Kölnerin wie ein Schlag: „Das linke Ohr war quasi taub. Die Diagnose: Hörsturz und viele Wochen der Rekonvaleszenz.“

Das Gehör kam zurück. Was aber blieb, das waren die furchtbaren Ohrgeräusche. Denen hat sie den Kampf angesagt. Aber das ist eigentlich gar nicht richtig. Es geht eher um eine Partnerschaft mit dem Geräusch. Denn die Ursachen, so haben Untersuchungen ergeben, sind eher psychosomatischer Natur. Eine Heilung ist unwahrscheinlich. Aber das Leben damit soll erträglicher werden.

Auf den Lärm als Krankheitsursache macht in dieser Woche auch der „Tag gegen Lärm“ aufmerksam. Lärm sei eine der Hauptursachen für den Tinnitus, sagt Dr. Claudia Böttcher: „Es ist ein Alarmsignal des Körpers, ein Hilferuf.“ So war es auch bei der Patientin aus Köln.

Körper zieht die Notbremse

Oft kommen aber - wie in ihrem Fall - noch andere Faktoren hinzu, bis der Körper die Notbremse zieht. Ein Faktor war wohl auch die Angst vor dem Krebs. Den hatte die Kölnerin schon vor Jahren überstanden. Operiert und erledigt. Das war es eben nicht, nur verdrängt. Mit der Sorge vor der Rückkehr des Krebses, mit der quälenden Angst vor einer Hiobsbotschaft bei jeder Vorsorge-Untersuchung, war die Frau allein. Dr. Böttcher rät deshalb allen Betroffenen: „Suchen Sie rechtzeitig Hilfe.“ Christa M. folgte dem Rat, weil die Geräusche unerträglich, ja zur Bedrohung wurden. Da waren nicht nur die schlaflosen Nächte, die am Körper zehren, während es im Ohr kreischt. Auch in beruflichen Situationen meldete sich der Tinnitus, wenn schwierige Aufgaben zu meistern waren, tausend Dinge durch den Kopf gingen verbunden mit dem Gedanken: „Du darfst nicht ausfallen. Man realisiert die eigene Belastung einfach nicht mehr“, weiß die Kölnerin jetzt. Selbst im Kino oder im Straßenverkehr sei sie nur noch mit Ohrschützern unterwegs gewesen, wegen der Angst vor Lärm und im vollen Bewusstsein der Gefahren.

Nach den Analysen der Deutschen Tinnitusliga leiden inzwischen etwa 1,5 Millionen Menschen an dem schweren, quälenden Tinnitus. Der werde immer häufiger diagnostiziert, weil die Mediziner sensibler für das Thema werden, schätzt die Oberärztin ein. Die Folgen seien weitreichend: Soziale Kontakte und Jobs gehen verloren, Ehen zerbrechen. Christa M. erinnert sich: „Ich dachte, ich drehe durch.“ Da habe sie sich nach einer Klinik umgesehen. In Pulsnitz lerne sie zu erkennen, was sie bedrohe, sagt die zarte Frau mit grauem Kurzhaarschnitt. Aus dem Feind ist ein Freund im Ohr geworden, die Trommler-Maus.

Zurück in den Job

Trommler heißt ihr Musiktherapeut in Pulsnitz. Die Maus als Begleiter gibt es inzwischen auch ganz real aus Filz, klein und gelb mit frechem, pinkfarbenem Haarschopf und einen Schwanz – geringelt wie die Schnecke im Ohr. Die Maus komme später auf den Schreibtisch in der Uni. Denn in den Job wolle sie auf jeden Fall zurück. Aber noch ist lernen in der Klinik angesagt: Den Tinnitus als Teil, der dazugehört letztlich sogar lieben zu lernen, mit ihm zu kommunizieren und das Fremdartige zu akzeptieren. „Die Patienten lernen hier, den Tinnitus zu steuern“, so Dr. Claudia Böttcher. Dazu gehören Methoden der Entspannung. Die Patienten lernen auch, sich stärker abzugrenzen, Situationen aus dem Weg zu gehen und später im Alltag eine Balance zwischen Belastung und Entspannung zu finden und ihr Verhalten zu ändern.

Christa M. kann jetzt ruhiger schlafen. Als Maus haben die Geräusche eine ganz andere Form angenommen. Aber gerade der Lärm ist immer noch eine große Bedrohung. In der Helios Klinik Schwedenstein in Pulsnitz habe sie ihre Ohrstöpsel noch gar nicht gebraucht. Hier habe sie dafür wertvolle Geräusche kennengelernt. So gehören Spaziergänge in der Natur mit zur Therapie. „Arztgespräche führten wir in der freien Natur“, so Dr. Böttcher. Das Rauschen der Blätter, Vogelgezwitscher, das Knirschen von Kies unter den Füßen: „Das tut gut.“ Natürlich gebe es auch viele Aufgaben für die Politik, zum Beispiel beim Arbeitsschutz. Lärm sei ein großer Stressfaktor. Es lasse sich aber auch nicht alles mit Gesetzen regeln: „Ganz viel liegt an uns selber“, sagt die Ärztin. Das weiß jetzt auch Christa M. und will ihr Leben künftig schon etwas anders gestalten. Ihre Trommler-Maus soll dabei helfen. Auch, wenn sich wieder die Kreissäge im Ohr melden sollte.